Mehr Medikamente "Made in Europe": "Unsere kollektive Sicherheit hängt davon ab"

Die Europäische Kommission will mehr Arzneimittel "Made in Europe". Ein am Dienstag vorgelegter Gesetzesentwurf zielt darauf ab, Engpässe vor allem bei lebenswichtigen Medikamenten wie Antibiotika, Insulin oder Schmerzmitteln zu beseitigen. Denn derzeit ist die EU in hohem Maße von Drittländern, vor allem in Asien, abhängig.
Das Gesetz zielt darauf ab, die Investitionen der Hersteller von wichtigen Arzneimitteln und wichtigen Inhaltsstoffen in der EU zu fördern.
Gesundheitskommissar Olivér Várhelyi hat sich an sein Versprechen gehalten, den Gesetzesentwurf in seinen ersten 100 Tagen im Amt vorzustellen, erntete mit diesem schnellen Vorgehen allerdings direkt Kritik. Es sei keine umfassende Folgenabschätzung durchgeführt worden und die Interessensgruppen aus der Pharmaindustrie hätten nur wenig Rückmeldungen erhalten. Die Kommission erklärte, der Vorschlag sei angesichts des anhaltenden Medikamentenmangels dringend erforderlich.
Ziele der EU: Versorgungssicherheit und Verfügbarkeit
Ziel des Gesetzes ist es, stabile und zuverlässige Versorgungsketten in der EU zu sichern und ein hohes Maß an Schutz und Sicherheit der öffentlichen Gesundheit zu gewährleisten.
"Das Gesetz über kritische Arzneimittel stellt sicher, dass die Patienten in der EU zu einem erschwinglichen Preis Zugang zu den Medikamenten haben, die sie brauchen, wann und wo sie sie brauchen. Angesichts der aktuellen geopolitischen Lage hat dies eine noch größere Priorität", sagte Várhelyi.
In dem Vorschlag werden die Versorgungssicherheit und die Verfügbarkeit von kritischen Arzneimitteln als strategisches Ziel der EU festgelegt. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein koordinierter Ansatz sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene erforderlich, räumte die Kommission ein.
Der Gesetzesentwurf zielt in erster Linie auf kritische Arzneimittel ab, die in der von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) im Jahr 2023 erstellten EU-Liste kritischer Arzneimittel aufgeführt sind. Der Schwerpunkt liegt dabei allerdings auf Arzneimitteln, die zur Behandlung schwerwiegender Erkrankungen eingesetzt werden oder für die es nur wenige Alternativen gibt.
Worum geht es bei dem Thema
Der Vorschlag zielt darauf ab, den gravierenden Mangel an Arzneimitteln in der EU zu beheben, insbesondere bei wichtigen Medikamenten wie Antibiotika, Insulin und Schmerzmitteln. Viele dieser Arzneimittel sind aufgrund der Abhängigkeit von einer begrenzten Anzahl von Herstellern oder Ländern nur noch schwer zu beschaffen.
Die Kommission ist sich der starken Abhängigkeit der EU von ausländischen Lieferanten für pharmazeutische Wirkstoffe (API) und der Risiken bewusst, die sich aus Exportunterbrechungen ergeben. Die COVID-19-Pandemie hat diese Schwachstellen offengelegt und die Notwendigkeit einer widerstandsfähigeren Lieferkette unterstrichen.
Während die Pharmaunternehmen für die Sicherstellung einer ausreichenden Arzneimittelversorgung verantwortlich sind, überwachen die einzelnen EU-Mitgliedstaaten die Verteilung in ihrem Hoheitsgebiet. Die meisten Engpässe werden derzeit auf nationaler Ebene bewältigt.
"Buy European" ist die Lösung
Der neue Vorschlag zielt darauf ab, Investitionen in die Herstellung von wichtigen Arzneimitteln und Inhaltsstoffen innerhalb der EU anzukurbeln und damit die Abhängigkeit von externen Anbietern zu verringern.
Eine Schlüsselmaßnahme ist eine Art "Buy European"-Prinzip, das Vergabekriterien für öffentliche Aufträge einführt, die der Versorgungssicherheit Vorrang vor dem reinen Preis geben.
Wenn in der Praxis eine Schwachstelle in den Lieferketten und eine Abhängigkeit von einem einzigen Drittland festgestellt wird, werden die öffentlichen Auftraggeber der EU in begründeten Fällen Beschaffungsanforderungen anwenden, die Lieferanten begünstigen, die einen erheblichen Teil dieser kritischen Arzneimittel in der EU herstellen.
Diese Maßnahmen werden im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen der Union umgesetzt. "Es geht darum, die EU-Produktionskapazitäten zu erhöhen und die Lieferketten zu diversifizieren, um sie widerstandsfähiger zu machen und gleichzeitig die Nachfrage zu steigern", erklärte ein EU-Beamter.
Eine gemeinsame Beschaffungsregelung?
Der Vorschlag führt auch ein Novum ein, eine Kategorie von Arzneimitteln, die genau geprüft wird: Arzneimittel von gemeinsamem Interesse. Dazu gehören Arzneimittel, die in mindestens drei EU-Mitgliedstaaten nur in geringem Umfang verfügbar und zugänglich sind, z. B. für die Behandlung seltener Krankheiten.
Für diese Arzneimittel schlägt die Kommission koordinierte Beschaffungsmechanismen mit den Mitgliedstaaten vor, um Ungleichheiten und Versorgungslücken zu vermeiden.
Dies könnte als Versuch gesehen werden, die lang erwartete gemeinsame Beschaffung von Arzneimitteln auf EU-Ebene in die Praxis umzusetzen. Bei der Beschaffung dieser Arzneimitteln von gemeinsamem Interesse will die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten unterstützen.
Darüber hinaus führt der Vorschlag das Konzept strategischer Projekte ein. Diese sollen die Kapazitäten zur Herstellung und Entwicklung kritischer Arzneimittel in der EU stärken.
Diese Projekte, die in der EU angesiedelt sind, könnten von Anreizen wie beschleunigten Genehmigungen, gestrafften Umweltverträglichkeitsprüfungen, administrativer und wissenschaftlicher Unterstützung und möglichen EU-Finanzierungen profitieren.
Mangel an Ehrgeiz (und Geld)
Die luxemburgische Europaabgeordnete der Grünen, Tilly Metz, forderte mutigere Initiativen zur Verlagerung der Arzneimittelproduktion nach Europa. "Gemeinsame Beschaffung und die Beschleunigung der Prozesse sind nicht genug", sagte sie gegenüber Euronews.
Derweil begrüßte der rumänische liberale Europaabgeordnete Vlad Voiculescu den Vorschlag als positiven Schritt hin zu einem besseren Zugang zu erschwinglichen Medikamenten.
"Es ist ein Anfang. Wir hoffen, dass er so bald wie möglich durch Finanzierung, Budgets und nationale Gesetzgebung unterstützt wird", sagte Voiculescu gegenüber Euronews.
Es gibt jedoch weiterhin Bedenken hinsichtlich der Finanzierung. Einige befürchten, dass das im Vorschlag vorgesehene Budget von 83 Millionen Euro für den Zeitraum 2026 bis 2027, vor allem durch das EU4Health-Programm, nicht ausreichen wird.
Bereits bevor der neue Gesetzesentwurf vorgestellt wurde, sprachen sich elf EU-Gesundheitsminister, den Anwendungsbereich des bevorstehenden EU-Verteidigungsfinanzierungsprogramms auf kritische Arzneimittel auszuweiten.
Der belgische Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke, einer der Unterzeichner, forderte die Kommission auf, das Gesetz in den europäischen Sicherheits- und Verteidigungsrahmen zu integrieren.
"Die Arzneimittelsicherheit ist genauso wichtig wie die Verteidigungs- oder Energiesicherheit. Unsere kollektive Sicherheit hängt davon ab", betonte er.