Polens Top-General im Interview: "Wir haben nicht einmal eine Strategie"
In einem ausführlichen Interview mit Euronews zeichnete General Leon Komornicki - einer der erfahrensten Kommandeure Polens und ehemaliger stellvertretender Generalstabschef - das Bild eines Landes, das seit Jahrzehnten nicht in der Lage ist, eine kohärente Verteidigungs- und Industriestrategie zu entwickeln. Gleichzeitig wies er auf Maßnahmen hin, die ergriffen werden müssen, wenn Polen Russland realistisch abschrecken will.
Borsuk - moderner Erfolg oder überfälliges Projekt?
Die jüngste Auslieferung des Schützenpanzers Borsuk an die polnische Armee löste Begeisterung aus, doch General Komornicki kühlte die Stimmung und erinnert daran, dass das Projekt seine Wurzeln in den 1960er Jahren hat.
"Das ist kein Grund zur Begeisterung. Fast 60 Jahre von der Idee bis zur Umsetzung", sagte er.
Er wies darauf hin, dass die Idee einer vollständigen Modernisierung von Schützenpanzern bereits 1992 aufkam, politische Entscheidungen der 1990er Jahre - verbunden mit dem "Glauben an das demokratische Gesicht Russlands" - die Arbeiten jedoch stocken ließen.
Das Projekt wurde 1998 aufgegeben und erst wieder aufgenommen, als die russische Aggression gegen die Ukraine das Ausmaß der Vernachlässigung deutlich machte.
Trotz der Kritik hält der General den Panzer für eine wertvolle Bereicherung der Armee: "Gute Panzerung, gute 30-mm-Kanone, die Parameter sind gut. Die britischen Streitkräfte haben Interesse am Kauf bekundet."
Er unterstrich zudem die Bedeutung des von einigen Experten kritisierten Auftriebs des Fahrzeugs als eines Elements, das die Manövrierfähigkeit erweitert - auch bei Landungsoperationen und im Küstenschutz.
Wo bleibt die polnische Verteidigungsstrategie?
Polen erhielt ein Darlehen in Höhe von 43,7 Milliarden Euro aus dem europäischen Verteidigungsprogramm #SAFE.
"Fast 44 Milliarden Euro von 150 sind für Polen vorgesehen. (...) Wir haben in den letzten Wochen daran gearbeitet, alle Bedürfnisse zu berücksichtigen - angefangen bei den polnischen Streitkräften, aber nach der Analyse haben wir auch beschlossen, andere Ministerien einzubeziehen. (...) Wir schätzen, dass von den Rüstungsausgaben nur für das Verteidigungsministerium, für die polnische Armee, etwa 89 Prozent in die polnische Rüstungsindustrie investiert werden können. Das ist eine große Investition, die die polnische Rüstungsindustrie beschleunigt und die polnische Wirtschaft noch schneller vorantreibt.(...) Das ist unsere Strategie - Sicherheit und Wirtschaft.", so Władysław Kosiniak-Kamysz, Leiter des Verteidigungsministeriums, am 26. November 2025.
Dies ist Teil eines Plans zur Aufrüstung Europas, unter anderem im Zusammenhang mit der Entwicklung der militärischen Fähigkeiten Russlands.
General Komornicki wies im Gespräch mit Euronews jedoch darauf hin, dass das größte Problem nicht ein Mangel an Ausrüstung ist, sondern ein Mangel an strategischem Denken und konsequenter Planung.
"Wir haben im Grunde genommen nicht einmal eine Strategie, wie wir uns verteidigen wollen. Es gibt heute keine achte Küstenverteidigungsdivision. Es ist ein Fehler zu denken, dass der Königsberger Perimeter bereits tot ist. So darf man nie denken, denn man weiß nicht, was in diesem Raum passieren kann."
Der "Königsberger Perimeter" bezeichnet das militärische Verteidigungs- und Kontrollgebiet rund um die russische Exklave Kaliningrad, das Russland zur Abschottung und Machtausübung in der Ostsee nutzt.
Der General beschreibt Versäumnisse bei der Analyse des Geländes, eine Schwächung natürlicher Verteidigungsanlagen sowie fehlgeleitete Infrastrukturinvestitionen - etwa das Fällen von Bäumen an der Grenze oder den Bau von "Betonigeln" und Stacheldrahtverhauen ohne operative Bewertung.
"Panzer können nicht durch alten Wald vorrücken. Und wir haben 150 Kilometer Wald abgeholzt - das ist ein Verbrechen."
Diese Art von Kritik ist Teil einer umfassenderen Diagnose: dem Fehlen eines analytischen Ansatzes für die territoriale Verteidigung und dem Versäumnis, öffentliche Investitionen mit der nationalen Sicherheit zu verknüpfen.
„Natürlich sind dafür Strategen da, und sie sollten 20 oder 30 Jahre im Voraus planen und entsprechend handeln. Doch [...] es dauert viel zu lange, von der Idee zur Umsetzung zu kommen.“
Polnische Militärausgaben im Vergleich zur Wirtschaft
Ihm zufolge investiert Polen viel zu wenig in Forschung und Entwicklung, die Mittel seien kaum mehr als ein "Almosen". Viele Projekte verschwänden in Schubladen, weil klare Strukturen fehlten.
Es gebe zu wenig Deregulierung, um private Unternehmen einzubinden, Forschungsergebnisse würden nicht in die Produktion überführt, und militärische Technologien fänden kaum Anwendung in der zivilen Wirtschaft.
"Jeder muss wissen, dass das, was er tut, sowohl der Verteidigung des Staates als auch der Entwicklung dient. Es geht nicht darum, die enormen Summen der Steuerzahler zu verbrauchen, sondern darum, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Diese Gesellschaft sollte davon profitieren - durch wirtschaftliche Entwicklung, Arbeitsplätze und neue Technologien", so Komornicki zu Euronews.
Der General nennt Beispiele aus westlichen Ländern, wie sich die Kosten militärischer Produktion senken lassen:
"Wenn militärische Ausrüstung noch in der Forschungs- und Entwicklungsphase ist, also auf der Stufe von Prototypen, bieten westliche Unternehmen diese bereits zum Verkauf an. Auf diese Weise haben wir kürzlich U-Boote aus Schweden gekauft. Es handelt sich gewissermaßen um Vorauszahlungen, mit denen die Hersteller ihre Forschungs- und Entwicklungskosten teilweise refinanzieren. Davon profitiert auch die schwedische Armee, denn je größer die Produktionsserie, desto geringer sind die Stückkosten. Mit anderen Worten: Die Ausrüstung kann günstiger produziert, besser verkauft und damit auch wirtschaftlich genutzt werden."
Strategische Souveränität erfordert aus Sicht des Generals vorausschauendes Denken.
"Natürlich werden wir in absehbarer Zeit keine Raketen produzieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns nicht in diese Richtung entwickeln müssen. Daran hätte längst gearbeitet werden müssen. Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass selbst unter Kriegsbedingungen Lang- und Mittelstreckenraketen entwickelt und eingesetzt werden können. Auch die Ukraine hat innerhalb weniger Jahre mit der Drohnenproduktion begonnen. Das ist der Weg, den wir gehen müssen. Entscheidend ist, den Markt zu deregulieren und Raum für private Unternehmen zu schaffen. Sie können den gesamten Prozess schnell dynamisieren - und so sehr interessante Projekte hervorbringen."
Der General kritisierte zudem Äußerungen von Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz nach dem Eindringen russischer Drohnen in den polnischen Luftraum. Dieser hatte erklärt: "Das ist keine Provokation, denn wozu sollte uns eine Drohne provozieren?"
Der General widersprach dieser Einschätzung deutlich: "Es handelt sich um einen bewaffneten Angriff aus dem Luftraum auf unser Territorium – mit der Absicht, das Luftverteidigungssystem des Landes entlang der Achse Brest–Warschau, also der operativen Richtung, zu identifizieren."
Sollte Polen Autonomie für die Rüstungsindustrie anstreben?
Nach Ansicht des Generals sollte Polen konsequent "seine eigene Verteidigungsfähigkeit" aufbauen - so wie es auch Artikel 3 der Gründungsvertrag der NATO vorsieht.
"Es wird keine Zeit mehr bleiben, auf Lieferungen aus Korea oder den USA zu warten. Die Versorgungsketten könnten dann schlicht nicht funktionieren", warnte er.
Scharfe Kritik übte Komornicki zudem am Import gebrauchter Militärausrüstung aus dem Ausland, darunter Stryker-Transporter der US Army Europe. "Man nimmt, was andere loswerden wollen ohne mit der Wimper zu zucken. Eine Katze im Sack", sagte er.
Er verwies dabei auf strukturelle Probleme wie die Abhängigkeit von ausländischen Ersatzteilen und Wartungsleistungen. Sobald Garantiezeiten abliefen, verursachten die Systeme enorme Folgekosten.
Die Schlussfolgerung des Generals ist eindeutig: "Es ist notwendig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir die Besten sind - und dass wir es auch sein müssen."
Feuchtgebiete und Wälder als natürliche Barriere gegen Invasionen
Nach Ansicht von General Komornicki ist die Wiederherstellung der natürlichen Verteidigungsfähigkeit Polens von zentraler Bedeutung. Ziel sei es, ein wirksames Hindernis für feindliche Truppen zu schaffen.
"Das Gelände muss optimal genutzt werden, um den Feind aufzuhalten", betonte er.
Scharfe Kritik äußerte der General am Vorgehen der derzeitigen Regierung. Diese habe sich darauf konzentriert, die Grenze "zu zubetonieren". "Man hat dort sogenannte 'Sündenböcke', also Panzersperren, errichtet. All das ist den Russen längst bekannt", sagte Komornicki. Zudem würden die Anlagen zunehmend von der Natur überwuchert: Zwischen den Betonblöcken wüchsen bereits selbst ausgesäte Bäume. "Wer soll das alles pflegen?", fragte er.
Moderne Verteidigung bedeute, den Gegner zu überraschen, Fehler auszunutzen und ihn gezielt an bestimmten Punkten aufzuhalten. Dafür brauche es eine systematische Herangehensweise. "Das muss der Generalstab festlegen - auf Grundlage einer operativen Geländestudie", sagte Komornicki.
Solche Analysen habe man bereits in den 1990er Jahren durchgeführt, mit interdisziplinären Teams aus Ingenieuren, Luftverteidigungsexperten, Logistikern, Artilleristen und Militärfotografen. "Genau diese Herangehensweise fehlt heute", kritisierte der General.
Nach Einschätzung des Generals mangelt es auch an Investitionen in die Wasserwege.
"Seit der Ära Gomułka wurden keine neuen Kanäle mehr gebaut. Der letzte war der Żerański-Kanal in den 1950er Jahren - der letzte Kanalbau in Polen", sagte er.
Die Wiederherstellung und Entwicklung natürlicher Strukturen habe aus seiner Sicht nicht nur militärische, sondern auch zivile Bedeutung. Als Beispiel nannte er ein Projekt aus dem Nordosten des Landes:
"Der Verband der Gemeinden und Kreise Ełk und Augustów wollte den Augustów-Kanal mit einem parallel verlaufenden Seenweg in Richtung Augustów verbinden. Geplant waren dort unter anderem Biathlon-Schießanlagen sowie Skiloipen nach finnischem Vorbild, die ganzjährig in einem unterirdischen Tunnel genutzt werden könnten."
Ein solches Projekt würde die Region beleben, argumentierte der General. Masuren sei vom Herbst bis ins Frühjahr weitgehend eingefroren, wirtschaftlich passiere dort kaum etwas. "Dabei würden die Menschen dort gerne sesshaft werden, Arbeit finden, sich entwickeln und eine Perspektive sehen. Stattdessen herrscht Stagnation", sagte er.
Aus seiner Sicht müssten in der Region Masuren die Seen stärker miteinander verbunden werden. Kanäle ermöglichten Mobilität, stärkten die wirtschaftliche Entwicklung - und könnten zugleich als natürliche Verteidigungslinien dienen.
Ist Polen bereit für einen bewaffneten Konflikt?
Aus dem Interview des Generals ergibt sich eine pessimistische Diagnose: Polen ist auf einen umfassenden Konflikt nicht ausreichend vorbereitet und handelt weiterhin vor allem reaktiv.
Die Lieferung der "Dachse" sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung, betont Komornicki, komme jedoch mindestens 20 Jahre zu spät.
"Die Leistungsfähigkeit einer Armee zeigt sich nicht zu Beginn eines Krieges, sondern nach einem Monat, nach sechs Monaten, nach einem Jahr", sagte er zu Euronews. Entscheidend sei, ob die vertraglich zugesicherten Fähigkeiten der westlichen Rüstungsindustrie im Ernstfall tatsächlich abrufbar seien. Das gelte auch für Waffensysteme wie Patriot, HIMARS oder Abrams, die Polen im Ausland gekauft habe.
Komornicki verwies auf die hohen Kosten und begrenzten Produktionskapazitäten: Um eine russische manövrierfähige oder ballistische Rakete abzufangen, seien in der Regel drei Patriot-Abfangraketen nötig. Eine einzelne Rakete koste drei bis vier Millionen Dollar. Polen habe rund 1.000 dieser Raketen in den USA bestellt. Die Vereinigten Staaten produzierten jedoch derzeit insgesamt etwas mehr als 600 pro Jahr, für das kommende Jahr seien etwa 1.000 geplant.
"Polen würde damit faktisch die gesamte Jahresproduktion der USA benötigen", sagte der General. Gleichzeitig müsse Europa die Ukraine weiter unterstützen und einen gemeinsamen europäischen Schutzschild aufbauen.
Polen zwischen Bestreben und Notwendigkeit
Komornickis Worte lassen sich als eindringliche Warnung verstehen. Polen müsse vom bloßen Einkauf militärischer Ausrüstung im Ausland zu echter militärischer und wirtschaftlicher Autonomie übergehen. Andernfalls bleibe das Land dauerhaft abhängig -von fremder Produktion, fremden Entscheidungen und fremdem Tempo.
Angesichts der aggressiven Politik Russlands und einer möglichen Erosion der amerikanischen Unterstützung für Europa sei ein Umdenken notwendig. Europa müsse mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen, betonte der General.
"Schon heute treffen die Amerikaner Entscheidungen, die zeigen, dass sie an vielen Stellen unter Druck geraten. Das hat nichts mit der Laune eines Präsidenten zu tun, sondern damit, dass die Vereinigten Staaten schwächer werden", sagte Komornicki.
Der wachsende Einfluss Chinas spiele dabei eine zentrale Rolle. Europa hingegen habe sich zu lange auf die Fähigkeiten der USA verlassen. "Wie ein 40-Jähriger, der sich noch immer von seinen Eltern tragen lässt", formulierte er. Der Krieg in der Ukraine habe gezeigt, dass Europa zwar über Geld verfüge, militärisch aber stark von der US-Industrie abhängig sei. Viele in Europa produzierte Systeme hätten sich zudem als wenig effektiv erwiesen.
Zwar würden künftig Panzer wie der K2 unter koreanischer Lizenz gebaut, doch auch dies komme zu spät, kritisierte Komornicki. Entscheidend seien nicht nur Fabriken, sondern qualifiziertes Personal: Ingenieure, Schweißer, Fachkräfte. "Das erledigt man nicht nebenbei", sagte er.
Gleichzeitig betonte der General, dass Polen über das nötige Potenzial verfüge. "Wir haben ein enormes Kapital an jungen, talentierten Menschen. Alles ist möglich - es braucht Deregulierung und ein Denken in staatlichen Kategorien."
Sein Fazit: "Staat und Militär sind Diener der Gesellschaft. Das Budget ist ein Auftrag der Gesellschaft, Sicherheit zu garantieren und Entwicklung zu ermöglichen. Das Wichtigste sind Frieden, Entwicklung und das Überleben der Nation. Das ist unsere Staatsraison - und ihr muss alles untergeordnet werden, nicht dem Krieg, nicht der Nachlässigkeit, nicht der Verschwendung."
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