Flucht in die Musik: BADWOR7H aus Kiew über die Kraft der Musik im Krieg
Im Alter von zehn Jahren nahm Dimas musikalischer Weg eine Wendung: "Ich stolperte zufällig über eine Installationsdatei für FL Studio, eine digitale Audioworkstation für Audioproduktion. Ich fing an, gedankenlos an den Reglern zu drehen", erinnert sich der in Kiew lebende Musiker. Damals steckte YouTube noch in den Kinderschuhen und Tutorials zur Tonproduktion waren rar gesät.
"In diesem Alter liebte ich es, vor dem Computer zu sitzen; es war eine Form der Flucht für mich", erklärt er und fügt hinzu, dass es ihm half, seine Ängste zu lindern - ein Gefühl, das ihn auch heute noch begleitet. Mit der Zeit führte ihn seine Leidenschaft zu einer unkonventionellen Entscheidung: Er entschied sich für eine Karriere im Underground-Genre des Hard Bass.
Während der Pandemie sollte sich einiges ändern. Dima, auch bekannt als BADWOR7H, durchlebte ein Jahr lang eine künstlerische Krise und seine Enttäuschung über das Genre wuchs. "Ich war gelangweilt von der Musik und den Herausforderungen der Underground-Szene", sagte er.
Auf der Suche nach einer neuen Richtung tat sich Dima schließlich mit seinem Freund Chocollab zusammen und gemeinsam produzierten sie eine EP mit dem Titel KYIVENERGO.
"Wir haben die EP vor Russlands Angriffskrieg 2022 produziert. Die Texte wurden zunächst auf Russisch geschrieben, da wir es zu dieser Zeit noch sprachen", sagt er. Nachdem Russland mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen hatte, überarbeiteten sie die EP und änderten die Texte ins Ukrainische.
Russisch war Dimas Muttersprache, aber seit Beginn des Angriffkrieges will er die Sprache des "Aggressors" nicht mehr sprechen und wechselte ins Ukrainische.
"Ich bin von der fünften Explosion aufgewacht"
Wenn Dima an den 24. Februar 2022 zurückdenkt, erinnert er sich, dass er durch laute Explosionen aufgewacht ist.
"Meine Mutter hat mir in Panik Nachrichten geschickt. Ihre Ängste wirken sich auf mich aus. Diese Eigenschaft übertrugen sich auf mich", erklärt er und fügt hinzu, dass seine Mutter Kiew zwar sofort verlassen wollte, sie aber schließlich noch zwei Tage blieben.
"Das Problem für mich war nicht nur die unmittelbare Gefahr, sondern auch der Mangel an zuverlässigen Informationen", sagt er.
"Bis dahin hatte ich Nachrichten von unzuverlässigen öffentlichen Kanälen erhalten, die mit russischen Bots und irreführenden Informationen überflutet wurden. Meine Mutter las etwas über den Einmarsch russischer Truppen in Kiew, was sie noch ängstlicher machte. Also beschlossen wir zu gehen. Die Flucht aus Kiew war ein Albtraum", erzählt er. Sie flohen in ihr Haus in Rschyschtschiw, einer Stadt rund 80 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Dima sagte, dass sie sich dort nicht sicherer fühlten und seine Mutter schließlich nach drei Wochen aus dem Land floh.
Dima blieb, da er das Land aufgrund des Kriegsrechts ohnehin nicht verlassen konnte und nicht über die finanziellen Mittel verfügte, um in den westlichen Teil des Landes umzuziehen, der allgemein als sicherer gilt. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land derzeit nicht verlassen. Nach einigen Wochen nahm sein Freund Chocollab Kontakt zu ihm auf und sie arbeiteten weiter an ihrer EP.
Obwohl sie die EP fertiggestellt hatten, beschlossen sie, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, sie zu veröffentlichen. Als jedoch in Kiew wieder Partys stattfanden, testeten sie das neue Material und die positive Resonanz veranlasste sie, KYIVENERGO zu veröffentlichen. "Im August 2022 veranstalteten Freunde von uns ein Festival für Straßenkultur und elektronische Musik namens Брудний пес und wir beschlossen, das Album dort zu präsentieren", fügt er hinzu.
Nach der Veröffentlichung spielte das Duo bei Wohltätigkeitsveranstaltungen, die von Initiativen wie Repair Together organisiert wurden. Diese konzentrierten sich auf den Wiederaufbau von Gemeinden, die vom Krieg Russlands gegen die Ukraine betroffen sind.
Das Konzept der "relativen Sicherheit"
"Der Krieg hat meine Gefühle und meine Musik beeinflusst. Sogar negative Emotionen motivieren mich", erklärt Dima und meint, dass in gewisser Weise die Redensart, dass sich der Mensch an alles anpasst, in seinem Fall zutreffe. "Aber was verstehen wir unter dem Begriff "angepasst"?", fragt er und denkt darüber nach, was ein "normales" Leben überhaupt bedeutet.
"Wenn man den Weg zur Arbeit, das Sitzen in einem Café und solche Dinge mit einbezieht, dann habe ich angefangen, mich "anzupassen", als Chocollab und ich beschlossen, im Juni 2022 nach Kiew zurückzukehren", erklärt er. "Ich nenne es das Konzept der "relativen Sicherheit". Ich glaubte, wenn ich mich irgendwo im Nirgendwo befinde, bin ich weniger wahrscheinlich ein Ziel für russische Raketen. Aber dann habe ich gemerkt, dass ich mich dann schlecht fühle. Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass ich lieber für einen kürzeren Zeitraum in vollen Zügen lebe als das Gegenteil, nämlich lange in Angst zu leben", erklärt er.
Dima fügt hinzu, dass es nach der Befreiung der besetzten Dörfer in der Region Kiew durch die ukrainischen Streitkräfte nur noch wenige Explosionen im Stadtzentrum gab. "Im Oktober 2022 fielen Fragmente einer Rakete auf einen Spielplatz im Schewtschenko-Park. Das war nur wenige Meter von der Universität entfernt, an der ich meinen Abschluss gemacht habe" sagt er und zeigt ein Foto von sich als Kind auf dem Spielplatz, der von den Fragmenten der russischen Rakete getroffen wurde. "Das war wie ein Realitätscheck", sagt er.
"Ich höre gerne härtere Musik. Ich bin an kreischende und verzerrte Sounds und schwere Bässe gewöhnt. Ich kann zu Frenchcore [ein Subgenre des Hardcore] einschlafen", erklärt er und nennt seinen Musikgeschmack als Grund dafür, dass das laute Knallen von Explosionen ihn deswegen weniger Angst macht. "Das ist weder ein Vorteil noch ein Nachteil", sagt er. "Es ist ein Nachteil, wenn ich in einer kritischen Situation funktionieren muss. Im Gegenteil hat es mir glaube ich geholfen, schlaflose Nächte zu vermeiden - bis zu einem gewissen Grad zumindest."
Luftalarm in Kiew
In der elektronischen Musik hat er festgestellt, dass sich der Krieg an Stellen einschleicht, an denen er es nicht erwartet hätte. "Man merkt, wie verbreitet der Klang von Sirenen in elektronischer Musik ist", erzählt er. Ukrainische DJs sind daher bei der Auswahl der Musik für ihre Sets besonders vorsichtig, da der Klang von Sirenen für manche ein Trigger sein könnte.
Viele Ukrainer haben sich dennoch an den Klang der Sirenen gewöhnt. Je nach Standort kann der Luftalarm mehrmals am Tag ertönen. Seit Russland seine Angriffe auf ukrainischen Städte wie Kiew und Charkiw verstärkt hat, ist die Luftschutzsirene zu einer Konstanten im Leben der Menschen geworden.
Die ukrainische Sängerin Melancholydi hat ein Video auf TikTok gepostet, das diese Konstante im Leben vieler Ukrainer zeigt. Sie harmonierte mit der heulenden Luftschutzsirene und verwandelte etwas Erschütterndes in etwas Schönes.
"Kürzlich habe ich an einem Track gearbeitet", erinnert sich Dima, "und der Luftalarm heulte. Ich fand es "faszinierend", dass der Ton dieselbe Tonart hatte wie die Melodie, an der ich gerade arbeitete. Es fühlte sich wie ein verzweifeltes Kichern an, weil es zu diesem Zeitpunkt eine seltsame Verschiebung in unseren Gehirnen geben musste [wenn es um die Geräusche des Krieges geht]".
Handy aufladen, oder an neuer Musik arbeiten?
Seit Beginn von Moskaus völkerrechtswidrigen Angriffskrieg hat Russland zunehmend die Energieinfrastruktur der Ukraine angegriffen. Da Kraftwerke von russischen Raketen zerstört oder beschädigt wurden, musste die Ukraine wieder temporäre Stromausfälle einführen, um Strom zu sparen. Doch als Produzent ist Dima auf Strom angewiesen. "Ich habe eine große Powerbank mit zwei Kilowatt gekauft. Damit kann ich aber nicht alle meine Geräte benutzen", sagt er und fügt hinzu, dass er sich ohnehin nicht wohl dabei fühlt, an neuer Musik zu arbeiten - für den Fall, dass der Zeitplan für die Stromausfälle nicht eingehalten wird.
"Wenn man nicht weiß, ob man in den nächsten 24 Stunden Strom hat, spart man den Strom, den man hat, um sein Handy aufzuladen oder abends etwas Licht zu haben." Für ihn bedeutet das, dass er an diesen Tagen praktisch nicht produktiv sein kann.
Das Musikmachen hilft Dima, seine Ängste zu bewältigen und mit allem fertig zu werden, was in seinem Leben vor sich geht.
"Anfang Juni hatte ich einen mentalen Zusammenbruch. Es war schwer zu unterscheiden, ob ich wegen meines geistigen Zustands keine Musik gemacht habe oder ob das Nicht-Musizieren meinen Zustand verschlimmert hat", gibt er zu. In der Ukraine nimmt jeder das Leben Tag für Tag und niemand weiß, was der nächste Tag bringt.
"Ich liebe Kiew", sagt Dima und denkt über die tiefe Verbundenheit nach, die ihn trotz der Herausforderungen in der Stadt verwurzelt hat. "Ein weiterer Grund, warum ich nicht weggehen möchte, ist, dass meine Großmutter hier lebt und ich Menschen habe, die auf mich angewiesen sind." Der 27-Jährige produziert nicht nur Musik, sondern bietet auch Kurse für Musikproduktion an.
Dima ist nicht der einzige, der seine Zukunft in der Ukraine sieht. Eine aktuelle Umfrage der Ilko-Kucheriv-Stiftung "Demokratische Initiativen" in Zusammenarbeit mit dem soziologischen Dienst des Rasumkow-Zentrums hat ergeben, dass die große Mehrheit der Ukrainer, rund 86 Prozent, ihre Zukunft in der Ukraine aufbauen möchte. Außerdem haben 59 Prozent die klare Absicht, im Land zu bleiben.
Dima spricht über das Gefühl der Zugehörigkeit, das er unter denjenigen verspürt, die seinen kulturellen Hintergrund und seine Werte teilen. "Wenn ich Kontakte knüpfe, wenn ich kommuniziere oder wenn mich jemand auf der Straße anspricht, wird mir klar, warum ich hier bin. Ich habe in mein Leben hier investiert. Es gab Jahre, in denen man mich nicht kannte und ich fühlte mich isoliert - sogar gefangen. Ich wusste, dass ich ein Netzwerk aufbauen musste, um meine Karriere voranzutreiben, aber ich wusste nicht, wie", erzählt er.
Dimas künstlerisches Ziel ist ehrgeizig: "Ich möchte, dass die ukrainische elektronische Musik für ihre erstklassige Produktionsqualität in allen Genres anerkannt wird", sagt er.
"Wenn ihnen niemand an der Front entgegentritt, könnte Kiew das nächste Butscha werden"
Im April erklärte der oberste ukrainische Staatsanwalt Andriy Kostin, dass die russischen Gräueltaten in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten sowie die Massaker von Bucha ein durchgängiges Muster völkermörderischen Verhaltens aufwiesen, das eine Verfolgung sowohl innerhalb der Ukraine als auch durch den Internationalen Strafgerichtshof rechtfertige. Nach Angaben der ukrainischen Behörden haben die russischen Streitkräfte in Butscha mindestens 1.400 Menschen getötet, darunter 37 Kinder.
Im ersten Monat des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges haben sich mehrere tausend Männer freiwillig den ukrainischen Streitkräften angeschlossen. Seitdem sind die Zahlen zurückgegangen. Im Dezember 2023 gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bekannt, dass die ukrainischen Streitkräfte bis zu 500.000 Soldaten mobilisieren müssten.
Diese Zahl wurde inzwischen von Armeechef Oleksandr Syrskyi revidiert. Eine konkrete Zahl ist heute jedoch nicht bekannt. Als Reaktion darauf verabschiedete die ukrainische Regierung in diesem Frühjahr ein Gesetz, mit dem das Wehrpflichtalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt wurde. Seit der Verabschiedung des Gesetzes sind die Männer verpflichtet, ihre Daten online zu aktualisieren und sie entweder Wehrpflichtigen oder Polizeibeamten auf Verlangen vorzuzeigen.
"Ich habe Angst davor, der Armee beizutreten", sagt Dima. "Für mich hat dieser Weg nur ein Ende: dass ich getötet werde. Ich schäme mich, das zuzugeben. Wenn ich Soldaten sehe, kann ich sie nur für ihre selbstlose Tapferkeit und ihren Mut bewundern", sagt er.
Er fährt fort: "Aber ich habe gesehen, was Russland in der Ukraine anrichtet. Wir alle haben Butscha gesehen. Mir ist klar geworden, dass Kiew das nächste Butscha werden könnte, wenn sich ihnen niemand an der Front entgegenstellt. Wenn man vor der Wahl steht, wie die unschuldigen Menschen in Butscha abgeschlachtet zu werden oder an die Front zu gehen, ist die Antwort klar: Man geht an die Front. Was soll ich dazu noch sagen?“