"Wiederherstellung von Gerechtigkeit": Ein Weihnachtslied kämpft gegen den Imperialismus
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Es ist eines der bekanntesten Weihnachtslieder der Welt – ein fester Bestandteil festlicher Soundtracks, ein Chor-Favorit und, überraschenderweise, auch ein Lied des Widerstands.
"Carol of the Bells", ursprünglich "Shchedryk" ("Das kleine Schwalbenlied"), wurde 1916 vom ukrainischen Komponisten Mykola Leontovych als Neujahrslied geschrieben. Die Grundlage bildete ein traditioneller Volksgesang, die "Shchedrivka", deren Ursprünge bis in die vorchristliche Zeit zurückreichen.
Damals wurde das neue Jahr noch im März gefeiert. Anders als in der bekannten englischen Version stehen nicht Glocken, sondern Schwalben im Mittelpunkt. Der Text feiert Fülle, Wohlstand und Familie und erwähnt unter anderem die Geburt von Lämmern, Reichtum und eine Frau, "schön wie eine Taube".
"Shchedryk" wurde erstmals im Dezember 1916 bei einem Weihnachtskonzert im Gebäude des ukrainischen Handelsrats uraufgeführt, dem heutigen Sitz der Nationalen Philharmonie der Ukraine. Das Lied wurde vom Studentenchor der St. Wolodymyr-Universität in Kyjiw dargeboten, die später in Taras-Schewtschenko-Universität umbenannt wurde.
Trotz Beschränkungen der ukrainischen Sprache im frühen 20. Jahrhundert verfasste Leontovych den Text auf Ukrainisch. Der Komponist wurde 1877 in einem Dorf in der Oblast Winnyzja geboren, das damals zum Russischen Kaiserreich gehörte.
Die ukrainische Sprache war zwar nicht vollständig verboten, doch die zaristischen Gesetze untersagten ihre öffentliche Nutzung außerhalb der Literatur und schlossen sie bis 1917 aus dem Bildungssystem aus. Dies erschwerte die Förderung und Verbreitung ukrainischer Kultur erheblich.
Ein Symbol des Widerstands
Nachdem Mykola Leontovychs Komposition internationale Anerkennung erlangt hatte, wurde "Shchedryk" zu einem Symbol der ukrainischen nationalen Identität und des Stolzes. Unter sowjetischer Herrschaft nach der Russischen Revolution wurden kulturelle Ausdrucksformen des ukrainischen Erbes – von Musik bis hin zu Folklore – systematisch unterdrückt oder so umgedeutet, dass sie dem ideologischen Rahmen des Sowjetregimes entsprachen. Doch mit seinen tiefen Wurzeln in der ukrainischen Tradition entwickelte sich "Shchedryk" zu einem kraftvollen Sinnbild für den Widerstand.
So wurde die Verbindung des Liedes mit dem andauernden Kampf um die Unabhängigkeit der Ukraine, besonders nach der Russischen Revolution 1917, immer deutlicher. Während die Sowjetunion ihre Macht festigte, wurde Leontovychs Werk zu einem Symbol ukrainischen Widerstands und spielte eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Bemühungen der Sowjets, die ukrainische Kultur und Autonomie zu unterdrücken.
Das Lied wurde von Ukrainern außerhalb der Kontrolle der Sowjetunion aufgeführt, was zu seiner Bekanntheit in westlichen Medien beitrug. Vor über 100 Jahren gab der Ukrainische Nationalchor rund 500 Konzerte in Europa, Süd- und Nordamerika. Die Auftritte wurden mit überwältigender Begeisterung aufgenommen, wobei ein Stück besonders beim Publikum Anklang fand: "Shchedryk".
Zur Bedeutung des kulturellen Erbes im Widerstand gegen Imperialismus und zur Bewahrung nationaler Identität zitierte Yaroslava Gres, Mitbegründerin von Ukraine WOW, den Dirigenten des renommierten tschechischen Chors Glagol, Jaroslav Křička. Nach einem Auftritt des Ukrainischen Nationalchors sagte er: "Die Ukrainer kamen und triumphierten. Ich glaube, wir wussten sehr wenig über sie und haben ihnen großes Unrecht getan, als wir sie unbewusst und ohne Kenntnis der Zusammenhänge gegen ihren Willen mit dem russischen Volk zu einer Einheit verschmolzen haben."
"Carol of the Bells"
1936 schrieb der amerikanische Dirigent Peter Wilhousky einen englischen Text, und "Carol of the Bells" entstand.
Tina Peresunko, Autorin einer Forschungsarbeit über die Geschichte von "Shchedryk" und die Gründerin des Leontovych-Instituts hat in einem Beitrag für das ukrainische Verlagshaus Ukraïner geschrieben, dass Wilhousky das Lied in einer Aufführung eines ukrainischen Chors gehört hatte. Daraufhin wollte er es mit seinem Schulchor im amerikanischen Radiosender NBC aufführen.
"Da die Jugendlichen nicht auf Ukrainisch singen wollten, musste ich englische Texte schreiben. Ich ließ die ukrainischen Worte über die Schwalben weg und konzentrierte mich stattdessen auf das fröhliche Läuten von Glocken, das ich in der Musik hörte", schrieb Wilhousky später in einem Brief an den ukrainischen Musikwissenschaftler Roman Sawycky. So wurde aus "Shchedryk" das weltberühmte Weihnachtslied "Carol of the Bells".
Seit seiner ersten Aufführung in den USA im Oktober 1922 in der Carnegie Hall hat sich "Carol of the Bells" von seinen ukrainischen Wurzeln gelöst und zu einem festen Bestandteil westlicher Weihnachtsfeiern entwickelt. Präsentiert vom Ukrainischen Nationalchor, eroberte die mitreißende Melodie schnell die Herzen des Publikums.
Heute ist "Carol of the Bells" ein unverzichtbarer Bestandteil von Weihnachtskonzerten. Seine markanten Harmonien erklingen weltweit bei zahllosen Aufführungen. Zudem hat das Lied seinen Weg in die Popkultur gefunden. Es ist in zahlreichen Filmen, Fernsehshows und Werbespots zu hören – ein weiterer Beleg für seinen Status als Weihnachtsklassiker.
Ermordet für die Förderung der ukrainischen Kultur?
Leontovych konnte die weltweite Bekanntheit seines Werkes nicht mehr erleben. Im Jahr 1921 wurde er in seinem Haus im ukrainischen Dorf Markiwka ermordet. Er wurde von der Bolschewistischen Geheimpolizei Tscheka erschossen, vermutlich wegen seiner Verbindung zum ukrainischen Nationalismus und kulturellen Widerstand.
Laut der Gründerin des Leontovych-Instituts Peresunko ist sein Tod bis heute Diskussionsthema. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass der mutmaßliche Mord politisch motiviert war – Teil einer umfassenden Unterdrückung ukrainischer Intellektueller und Kulturschaffender.
Bis heute gilt "Shchedryk" für viele Ukrainer als Hymne gegen den Imperialismus und die Auslöschung der ukrainischen Kultur. Auch Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk verbindet mit dem Lied Gerechtigkeit.
"Die Zarenherrschaft hat jahrhundertelang versucht, die ukrainische Sprache und Kultur zu zerstören. Deshalb haben wir so viele Volkslieder – sie sind ein immaterielles Erbe und schwer auszulöschen. Die Russen haben Menschen getötet, die ukrainische Lieder geschrieben und gesungen haben, wie zum Beispiel Mykola Leontovych, den Autor von 'Shchedryk', oder den Komponisten Wolodymyr Iwasiuk", erzählt sie gegenüber Euronews.
"Trotz alledem wurde ein ukrainisches Lied weltbekannt. Und für mich ist das eine Wiederherstellung von Gerechtigkeit", erklärt Matwijtschuk.
"Putin sagt ganz direkt, dass es kein ukrainisches Volk gibt"
In einem 2021 veröffentlichten Essay bekräftigte Russlands Präsident Wladimir Putin seine Überzeugung, dass Russen und Ukrainer ein einziges Volk seien, historisch und spirituell vereint. In dem Text heißt es: "Wenn Sie von einer einzigen großen Nation sprechen, einer dreieinigen Nation, welchen Unterschied macht es dann, ob sich die Menschen als Russen, Ukrainer oder Belarussen betrachten?"
In diesem Kontext argumentiert Putin, dass die Unterschiede zwischen diesen Gruppen künstlich seien – eine Sichtweise, die die ukrainische Identität als eigenständig negiert.
Seit 2014 sind solche Aussagen Teil einer umfassenderen russischen Strategie zur kulturellen Unterdrückung, die darauf abzielt, die ukrainische Kultur auszulöschen. Wie Martha Holder für den Atlantic Council schrieb, gehören dazu die gezielte Zerstörung kultureller Stätten, Angriffe auf Museen, Kirchen und Denkmäler sowie die systematische Unterdrückung der ukrainischen Sprache – eine Fortsetzung imperialistischer Kontrolle.
"Putin sagt ganz direkt, dass es kein ukrainisches Volk gibt, keine ukrainische Sprache, keine ukrainische Kultur", ergänzt Oleksandra Matwijtschuk. "Seit zehn Jahren dokumentieren wir, wie sich diese Worte in eine grausame Praxis verwandeln. […] Als Juristin weiß ich, wie schwierig es ist, Genozid zu beweisen. Aber man muss kein Jurist sein, um eine einfache Tatsache zu verstehen: Wenn man eine nationale Gruppe teilweise oder vollständig auslöschen will, müssen man nicht alle Mitglieder dieser Gruppe töten. Man kann ihre Identität verändern, und die gesamte nationale Gruppe wird verschwinden", so Matwijtschuk abschließend.
Monday, february 17, 2025