Exklusiv-Interview mit EU-Handelschef Šefčovič: „Alles kann zur Waffe werden“
EU-Handelskommissar Maroš Šefčovič sagte in einem Exklusivinterview mit Euronews, dass jede kritische strategische Lieferung potenziell als Waffe gegen die Europäische Union eingesetzt werden könne.
Die EU ringt mit den Folgen der Übernahme des Chipunternehmens Nexperia durch die niederländische Regierung, die den Schritt mit Gründen der nationalen Sicherheit gerechtfertigt hat.
Die Entscheidung aus Den Haag hat einen Streit zwischen Europa und China darüber entfacht, wer die Kontrolle über das Unternehmen und seine Endprodukte ausübt.
In der Folge reagierte Peking mit Beschränkungen für Chipexporte. Šefčovič hob hervor, der Fall mache die Komplexität globaler Lieferketten ebenso deutlich wie die Risiken, die mit kritischen Abhängigkeiten von Staaten außerhalb der EU einhergehen.
"Der Vorfall unterstreicht die Lehren, die wir in den letzten Jahren gezogen haben, und er betrifft nicht nur China. Heute kann alles zu einer Waffe werden", meint Šefčovič. Für Europa, argumentierte er, "begann es mit [russischem] Gas, dann ging es weiter mit kritischen Rohstoffen und High-End- und Low-End-Chips. Das alles kann als Waffe eingesetzt werden."
Seit Beginn des Konflikts vor gut einem Monat steht Šefčovič mit den chinesischen und niederländischen Behörden in engem Austausch. Die niederländische Regierung hatte am 30. September die Kontrolle über Nexperia übernommen, aus Sorge, das Unternehmen könne zerschlagen und nach China verlagert werden. Verbunden war damit die Befürchtung, dass sensible Technologie abfließen könnte.
China reagierte mit einer Blockade seiner Chipexporte, was in Europa wie weltweit Sorgen über einen möglichen globalen Engpass bei Autochips hervorrief.
Die festgefahrene Lage entspannte sich am 30. Oktober, nachdem China und die USA bei einem Treffen in Südkorea einen vorläufigen Waffenstillstand in ihrem bilateralen Handelsstreit vereinbarten.
"China ergreift geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass der Handel mit den Nexperia-Anlagen in China wieder aufgenommen wird, so dass die Produktion wichtiger Chips in den Rest der Welt fließen kann", hieß es in einer Erklärung des Weißen Hauses.
Šefčovič machte deutlich, dass die teilweise Wiederaufnahme der Exporte auf eine beginnende Entspannung im Streit hindeutet. Zugleich betonte er, das gesamte Debakel sei eine erneute Warnung, wie dringend Europa seine Lieferketten diversifizieren müsse.
"Wir bekommen Informationen von den Autoherstellern und den Ersatzteilproduzenten, dass sie diese Chips bekommen", sagte er. "Aber wir stehen erst am Anfang der Lösung dieses Problems, deshalb werden wir weiter mit unseren niederländischen Kollegen und den chinesischen Behörden sprechen."
Vincent Karremans, der niederländische Minister im Zentrum des Konflikts mit China, erklärte in einem Interview, er würde die gleichen Schritte erneut gehen. Zugleich machte er deutlich, dass der Vorgang ein warnendes Beispiel für die erheblichen Abhängigkeiten sei, die Europa über die Jahre hinweg entstehen ließ.
EU erarbeitet eine neue Leitlinie zur wirtschaftlichen Sicherheit
Die Nexperia-Affäre ist der jüngste Zwischenfall im Verhältnis zwischen China und der EU, bei dem es um die Lieferung strategisch wichtiger Komponenten geht, die in zahlreichen Branchen – von der Automobilindustrie bis zur Verteidigung – eingesetzt werden.
Der Fall zeigt zudem, wie solche Materialien zunehmend als politisches Druckmittel genutzt werden. Nach wochenlangen Spannungen, die auch die europäische Industrie belasteten, einigten sich die EU und China darauf, bestimmte Exportbeschränkungen für Seltene Erden zu lockern.
Die EU-Kommission arbeitet derzeit an einem Maßnahmenpaket, das im kommenden Monat vorgestellt werden soll und einige dieser Verwundbarkeiten adressieren soll. Šefčovič betonte, dass der weltweite Wettbewerb um Seltene Erden, kritische Komponenten und verlässliche Lieferketten ein koordiniertes europäisches Vorgehen erfordere.
"Wir müssen ein bisschen mehr wie Japan arbeiten, wo sie einige der kritischen Rohstoffe, einige der kritischen Technologien und kritischen Chips auf Lager haben", sagte Šefčovič. "Ich denke, dass dies eine der Lehren ist, die wir in die neue Doktrin für wirtschaftliche Sicherheit einbringen wollen, die wir vor Ende des Jahres vorlegen werden."
Die EU setzt weiterhin auf eine Politik der Risikominderung statt auf eine Abkopplung von China. Damit bleibt der Handel grundsätzlich offen, zugleich werden in strategisch wichtigen Bereichen Schutzmaßnahmen eingeführt und Lücken im europäischen Binnenmarkt geschlossen.
"Wirtschaftliche Sicherheit und wirksame Exportkontrollen würden nur funktionieren, wenn sie in der gesamten EU einheitlich angewandt würden", sagte Šefčovič und fügte hinzu: "Diejenigen, die das System missbrauchen wollen, werden immer eine Schwachstelle finden, um in den europäischen Markt einzudringen - und dann die gesamte europäische Wirtschaft in Gefahr bringen."