Orbáns Geheimdienst unterhielt offenbar ein Spionagenetz in Brüssel

Vor zehn Jahren, als sich die Regierung des ungarischen Ministerpräsidenten zunehmend mit der Europäischen Kommission überwarf, schickte der ungarische Geheimdienst, das Informationsbüro, seine Beamten in die ständige Vertretung der Europäischen Union. Offiziell befassten sie sich beispielsweise mit Finanz- und Wirtschaftsangelegenheiten, doch in Wirklichkeit wurden sie für interne Spionage in den EU-Institutionen eingesetzt, wie eine gemeinsame Untersuchung mehrerer europäischer Zeitungen ergab.
Direkt36 enthüllt, dass V., ein "gewandter" Diplomat an der Ständigen Vertretung Ungarns in Brüssel, versuchte, ungarische Staatsbürger, die in EU-Institutionen arbeiten, anzuwerben. V. arbeitete in Brüssel als "getarnter Diplomat", d.h. Mitarbeiter der Abteilung für Kohäsionspolitik, in Wirklichkeit war er jedoch Mitarbeiter des Informationsbüros.
Zwischen 2012 und 2018 spionierten ungarische Geheimdienstagenten unvorsichtig und offen, d.h. sie hielten sich nicht an die Sicherheitsvorschriften: 2017 wurde V. enttarnt und mit ihm das gesamte ungarische Geheimdienstnetzwerk in Brüssel, schreibt die Zeitung.
Laut der belgischen De Morgen wendeten Orbáns Spione aggressive Taktiken an, die in einem EU-Mitgliedstaat beispiellos sind und eher an die Praktiken des russischen oder chinesischen Regimes erinnern.
So baten sie beispielsweise ungarische Mitarbeiter der Europäischen Kommission, interne Informationen wie Sitzungsprotokolle gegen Geld an Diplomaten mit verdecktem Status weiterzugeben. Zu diesem Zweck sollen die EU-Beamten sogar Dokumente unterzeichnet haben, die sie zu "geheimen Mitarbeitern" des ungarischen Geheimdienstes machten.
Alle ungarischen Mitarbeiter, potenzielle Spione?
Die belgische Zeitung schreibt, dass das Netzwerk auch Zweifel am Ruf des derzeitigen ungarischen EU-Kommissars Olivier Várhelyi aufkommen lässt, der von 2015 bis Ende 2019 für die Spionageoperation in der EU-Delegation verantwortlich war. Der belgische Außenminister Maxime Prévot sagte, dass der Fall nicht unbeantwortet bleiben dürfe und dass Spionage auf belgischem Gebiet nicht toleriert werde.
Der ehemalige ungarische Außenminister und Diplomat István Szent-Iványi bezeichnete es auf Nachfrage von Euronews als skandalös, dass ein EU-Mitgliedstaat Spionage in EU-Institutionen betrieben habe. "Schon während der Olaf-Untersuchung wurde deutlich, dass die ungarische Regierung die EU bedauerlicherweise als Feind betrachtet. Eine der Folgen des Falles könnte ein Misstrauen gegenüber ungarischen Mitarbeitern und Diplomaten sein, die in der Kommission arbeiten." Der ehemalige ungarische Diplomat sagte Euronews weiter, es sei möglich, dass ungarische Mitarbeiter in Brüssel als potenzielle Spione angesehen werden.
"Wenn Orbáns Agenten EU-Beamte ausspionieren, zeigt das, wie unfreundlich die Beziehungen Ungarns zur EU sind. Seit mehr als einem Jahrzehnt spielt der ungarische Premierminister die Rolle des Unruhestifters unter den 27 Staats- und Regierungschefs, treibt einen Keil zwischen die EU-Mitgliedsstaaten und propagiert seine illiberale Politik als ein Modell, das den Werten der EU zuwiderläuft (...) Infolgedessen hat Ungarn nur wenige einflussreiche Positionen innerhalb der EU. Insider-Quellen zufolge musste der ungarische Geheimdienst deshalb Informationen sammeln und die Lücken füllen", berichtet der Wiener Standard über den Fall.
Ungarn ist in die geheimdienstliche Zusammenarbeit innerhalb der EU eingebunden. Es ist üblich, dass sich verbündete Staaten nicht gegenseitig ausspionieren, erinnert die österreichische Zeitung.
Partner mit "geteilter Loyalität"
Ungarn gilt jedoch als Partner mit "geteilter Loyalität", und viele vermuten, dass ein Teil der Informationen, die es erhält, in Moskau landet. Außerdem stellt sich hier nicht nur die Frage, ob Budapest dem Westen oder Moskau gegenüber loyaler war, sondern auch, ob die Spionage dem ungarischen Staat oder der Regierung Orbán diente.
Eine der Quellen von Direkt36, ein ungarischer Kommissionsbeamter, der den Versuch von V., ihn anzuwerben, zurückwies, sagte, er habe den Eindruck, dass der IH in Brüssel nicht mehr spioniere, um ungarische Interessen zu fördern, sondern um die politisch-wirtschaftliche Macht der Regierung Orbán und ihrer Partner zu stärken.
Der ungarische Nachrichtendienst in Brüssel arbeite "mit einem breiten Spektrum", d.h. "alle ungarischen Staatsbürger, die für die Kommission arbeiten und nachrichtendienstliche Fähigkeiten haben, wurden ins Visier genommen und bearbeitet", so eine mit den internen Angelegenheiten des ungarischen Geheimdienstes vertraute Quelle gegenüber der ungarischen Zeitung. Und wenn die Anwerbung erfolgreich war, befand sich die angeworbene Person in der Regel bereits zu Gesprächen in Ungarn.
Interesse an der Frage der Medienfreiheit
Der Direkt36-Artikel beschreibt, dass einer der sensiblen Bereiche, in denen der ungarische Geheimdienst besonders interessiert war, Informationen zu erhalten, die Frage der Medienfreiheit war. Laut der Brüsseler Quelle der Zeitung war der ungarische Diplomat sehr daran interessiert, welche Art von Berichten und Gegenmaßnahmen die Kommission gegen das Vorgehen der Orbán-Regierung gegen die unabhängigen Medien zu ergreifen gedachte.
Der Geheimdienstoffizier, der unter diplomatischer Tarnung arbeitet, wollte auch wissen, ob es ungarische Mitglieder in den EU-Gremien gebe, die sich mit ungarischen Medienfragen befassen, und ob sie die Orbán-Regierung in ihren kommenden Dokumenten kritisieren werden. Der IH hat aber auch Fragen der Steuerpolitik und des Steuersystems ins Visier genommen.
Der Karriere von Agent V. hat seine Enttarnung jedenfalls nicht geschadet: Im Jahr 2024 veröffentlichte er in der Zeitschrift des Militärischen Nationalen Sicherheitsdienstes (KNBSZ) einen Artikel über die "aktuellen Herausforderungen" für die nationalen Sicherheitsdienste. In der Zeitschrift wird er als Major V. und Doktorand am Nationalen Informationszentrum aufgeführt, einer Behörde, die Informationen aller ungarischen Nachrichtendienste bündelt.
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