Leben wir Deutschen über unseren Verhältnissen? - "Bullshit", sagt Bärbel Bas

Beim Landesparteitag der CDU in Bonn wurde Bundeskanzler Friedrich Merz ganz deutlich: "Wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse", sagte er.
Merz bekräftigte auch noch einmal seine Aussage, dass der heutige Sozialstaat "mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar" wäre. Doch wen meint er mit 'wir' und wie hat sich das Budget der Deutschen über die Jahrzehnte verändert?
Für Kanzler Merz ist klar, dass wir "ran an die sozialen Sicherungssysteme" müssten, auch wenn dies "schmerzhafte Entscheidungen" und Einschnitte bedeute. Man müsse außerdem mehr und effizienter arbeiten.
Für die Union liegt es auf der Hand: Der Haushalt könnte mit Einsparungen beim Sozialsystem gerettet werden. Die Reformvorschläge betreffen Rente, Bürgergeld und Pflege.
Sozialausgaben in zwei Jahrzehnten moderat gewachsen
Tatsächlich sind die Sozialausgaben Deutschlands binnen 20 Jahren nur um etwa 26 Prozent angestiegen. Im Vergleich mit den 27 Ländern der Industriestaatenorganisation OECD liegt Deutschland damit auf dem drittletzten Platz vor Griechenland und den Niederlanden und ist eines der Länder mit dem geringsten realen Kostenanstieg.
Das zeigt eine Auswertung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Die Autoren hinter der Studie bezeichnen Deutschlands Entwicklung daher auch als "unauffällig". In Irland, Polen und Luxemburg hingegen sind die öffentlichen Sozialausgaben zwischen 2002 und 2022 um mehr als 100 Prozent gestiegen.
Doch der relative Anteil der Sozialausgaben am Bundeshaushalt ist sogar rückläufig. Denn auch die Gesamtausgaben des Bundes sind in den vergangenen Jahren gestiegen.
Anteil der Sozialausgaben am Bundeshaushalt gesunken
Betrachtet man den Anteil der Ausgaben für soziale Sicherung am Gesamthaushalt, so liegt dieser im Jahr 2023 bei 37,1 Prozent. Das Niveau ist damit wieder unter den langfristigen Durchschnitt von 41,7 Prozent gesunken, teilte das Statistische Bundesamt Mitte 2024 mit. Auch hier ergeben die Auswertungen des IMK, dass Deutschland sich im Mittelfeld der OECD-Staaten platziert.
In den Bereich der sozialen Sicherung fallen beispielsweise staatliche Leistungen der Mindestsicherung - etwa Wohngeld oder Bürgergeld - und des Lebensunterhalts. Auch die Zuschüsse zum gesetzlichen Rentenversicherungssystem sind hier verankert. Im vorläufigen Abschluss des Bundeshaushalts 2024 ist ein Plus von 3,5 Prozent für das vergangene Jahr vermerkt.
Im Langzeitvergleich fällt außerdem auf, dass die Ausgaben des Bundes für die Soziale Sicherung seit 2020 wieder gesunken sind. Anders als die Rhetorik von Merz vermuten lässt, sind die Ausgaben also nicht weiter gestiegen. Größeres Problem stellt die Wirtschaftslage, die seit knapp vier Jahren stagniert.
Die Ausgaben für Wirtschaftliche Angelegenheiten waren nach Angaben des Statistischen Bundesamts nur 1995 höher als heutzutage. Destatis erklärte dies unter anderem mit der Einführung des Deutschlandtickets. Unter diese Ausgaben fallen aber auch Konjunkturprogramme wie etwa Coronahilfen sowie auch Entlastungspakete im Zuge der Energiepreiskrise.
Arbeitslose beanspruchen nur drei Prozent der Sozialleistungen
Betrachtet man die Zusammensetzung der Sozialleistungen, so geht ein Großteil der Ausgaben in die Bereiche Alter und Krankheit. Eine Statista-Auswertung von Daten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zeigt auf, dass der demografische Wandel einer der größten Faktoren für diese Verteilung ist.
Die Gesellschaft wird immer älter - jede zweite Person in Deutschland ist heute älter als 45 Jahre. Durch den Altersaufbau ist damit zu rechnen, dass immer mehr Senioren auf immer weniger Bevölkerung im Erwerbsalter treffen.
Der Bereich Arbeitslosigkeit liegt erst an Position sechs, nach Kindern, Invalidität und Hinterbliebenen. Gemessen an der Summe aller Sozialleistungen liegt der Anteil der Ausgaben in diesem Bereich bei lediglich drei Prozent: konkret belief sich die Summe 2023 auf rund 40 Milliarden Euro. Dies zeigt auch, dass das Einsparpotenzial beim Bürgergeld gering ist.
Arbeitsministerin Bärbel Bas: Debatte über Sozialstaat ist "Bullshit"
"Diese Debatte gerade, dass wir uns diese Sozialversicherungssysteme und diesen Sozialstaat finanziell nicht mehr leisten können, ist – und da entschuldige ich mich jetzt schon für den Ausdruck – Bullshit", erklärte Arbeitsministerin Bärbel Bas bei der Landeskonferenz der NRW-Jusos in Gelsenkirchen.
Sie gesteht allerdings zu, dass Reformen notwendig seien. Ein stabiles System für Gesundheitsversorgung, Pflege und Rente sei besonders für kommende Generationen entscheidend.
Merz spalte die Gesellschaft, indem er "in die rhetorische Trickkiste greift und erweckt den Anschein, der Sozialstaat würde uns finanziell ruinieren", so auch Michaela Engelmeier, Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD) gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. "Das ist nicht nur sachlich falsch, sondern gesellschaftlich gefährlich", warnte sie. Letztendlich geht es auch um den politischen Wettbewerb.
Ende des Herbst sollen bereits erste Ergebnisse der Expertenkommission zum Thema Sozialreformen vorgestellt werden. Diese hat am heutigen Montag ihre Arbeit aufgenommen. Denn alle sind sich einig, dass Reformen notwendig sind. Es liegt an den Möglichkeiten der Ausgestaltung, ob die Deutschen in Zukunft mehr für sich selbst sorgen müssen - insbesondere, was die Rente und Pflege betrifft. Oder ob die Politik es schafft, die Wirtschaft anzukurbeln und in Fahrt zu bringen.
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