Iraker soll 16-Jährige vor Zug geworfen haben: Gab es vorher ein Versagen von Behörden?

Der Fall der getöteten 16-Jährigen Ukrainerin Liana K. sorgt für Entsetzen. Die Forderungen nach Aufklärung werden immer lauter.
Ein 31-jähriger Iraker wird verdächtigt, die Jugendliche am 11. August tödlich gegen einen durchfahrenden Güterzug am Bahnhof Friedland geschubst zu haben. Zuvor soll die 16-Jährige, die mit ihrer Familie aus dem ukrainischen Mariupol geflohen war, in Angst ihren Großvater angerufen haben, als er zur Hilfe ankam war es schon zu spät.
Gegenüber dem NDR sagte Carina Hermann, parlamentarische Geschäftsführerin der CDU: "Ich erwarte, dass die Innenministerin von sich aus unterrichtet und wir das nicht erst beantragen." Niedersachsens Innenministerin, Daniela Behrens (SPD) wiederum weist die Schuld zu den Behörden: „Sein Asylverfahren hätte er in Litauen durchlaufen müssen, konnte aber aufgrund eines laufenden Gerichtsverfahrens jahrelang nicht dorthin überstellt werden.“
Denn der 31-jährige Migrant hätte sich nicht mehr in Deutschland aufhalten dürfen. Er war ein sogenannter Dublin-Fall und eine Abschiebung nach Litauen war bereits angeordnet. Was war passiert? Versagten etwa die Behörden?
Euronews liegen die Gerichtsdokumente zu dem Fall vor.
Versagten die Behörden? Das steht in den Akten:
Der 31-jährige Iraker Muhammad A. kam 2022 nach Deutschland, stellt einen Antrag auf Asyl. Der Antrag wird jedoch schon Ende 2022 abgelehnt. Er wird zu einem sogenannten Dublin-Fall und muss in das Land, wo er als erstes den EU-Boden betrat, zurückgeführt werden. Das war Litauen.
Muhammad A. selbst klagte Anfang 2023 gegen die Entscheidung beim Verwaltungsgericht Göttingen. Auf Euronews-Anfrage möchte das Gericht gegenüber der Presse nicht mitteilen, wer der Anwalt von A. war - weil die Anwaltskanzlei darum ausdrücklich gebeten hatte.
Ein Sprecher teilte mit: "Von einer Benennung der im Verfahren mandatierten Anwaltskanzlei sehe ich ab, weil diese aufgrund befürchteter Anfeindungen ausdrücklich darum gebeten hat, den Namen nicht im Zusammenhang mit diesem Fall weiterzugeben. Über die Mitwirkung einer NGO liegen mir keine Informationen vor."
Wieso brauchte das Gericht zwei Jahre für ein Urteil?
Das Verwaltungsgericht Göttingen hat ganze zwei Jahre gebraucht, um eine Entscheidung zu treffen. Im Februar 2025 fällt das Urteil: Die Klage des Irakers sei unbegründet und er darf aus Deutschland ausgewiesen werden.
Euronews wollte von dem Gericht wissen: Wieso es zwei Jahre für diese Entscheidung brauchte. Das Gericht erklärt: Zuvor gab es einen "ursprünglich stattgebenden Eilbeschluss." Dies war im Januar 2023. Nach diesem habe sich "die Rechtssprechung zu systemischen Mängeln im Asylverfahren in Litauen geändert. Derzeit wird nicht mehr von solchen systemischen Mängeln ausgegangen."
Weiter erklärt der Sprecher des Verwaltungsgerichts: "Dass es nach dem Eilbeschluss noch zwei Jahre bis zum – letztlich klageabweisenden – Urteil gedauert hat, ist angesichts der zu bewältigenden Menge an Asylverfahren leider nichts Ungewöhnliches" Die Belastungsituation sei sehr hoch.
2021 reiste er nach Litauen - zwei mal Asyl abgelehnt
Euronews liegen die Gerichtsdokumente vor. In diesem heißt es: "Ausweislich des Eurodac-Treffers stellte der Antragsteller am 25. August 2021 einen Asylantrag in Litauen".
Dort reise Muhammed A. erstmals illegal in die EU ein. Und dort stellte er Asyl, doch Litauen lehnte zwei mal ab. "Der Antragsteller führte aus, dass er in Litauen ein Asylverfahren erfolglos durchlaufen habe. Er habe zwei Ablehnungen erhalten"
Am 6. Oktober 2022 stellte das Bundesamt für Migration (BAMF) deshalb ein Dublin-Antrag auf "Wiederaufnahmegesuch" an Litauen". Erst nach dem Fristablauf bestätigte Litauen am 27. Oktober 2022 schließlich die Zuständigkeit nach der Dublin III-Verordnung.
Über die neuen Details des Täters berichtete zuerst am Dienstag die Zeitung die Welt.
Hat das Bundesmigrationsamt nicht genau geprüft?
Das Gericht wirft in dem Eil-Beschluss von Januar 2023 dem Bundesmigrationsamt einen Fehler vor: "Die Antragsgegnerin hätte jedoch nach summarischer Prüfung" gemäß Dublin "die Zuständigkeitsprüfung fortsetzen müssen".
Dies begründet das Göttinger Verwaltungsgericht damit, dass das BAMF hätte prüfen und wissen müssen, ob die Kritierien in Litauen überhaupt erfüllt werden, um dort Dublin-Migranten zu überstellen.
Zu der Zeit hätte es "wesentliche Gründe für die Annnahme" gegeben, dass "Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta (GRC) mit sich bringe", heißt es weiter in dem Eilbeschluss der Verwaltungsrichter.
Als Reaktion auf den von Belarus provozierten großen Andrang von illegaler Migration aus Drittstaaten hatte Litauen damals seine Asylpolitik verschärft.
Iraker behauptet gegenüber dem Gericht, er sei vergewaltigt worden
Ebenfalls zeigt sich in den Gerichtsdokumenten die Sicht des Irakers Muhammed A.
A. behauptete mit seinem Anwalt vor dem Verwaltungsgericht Göttingen, dass er nach seiner illegalen Einreise in Litauen "inhaftiert und einen Monat lang in Einzelhaft" gewesen sei.
Zudem gab er an, dass er homosexuell ist. Als Homosexueller wollte er in Litauen in ein anderes Camp verlegt werden. Das Gericht schreibt, das Muhammed A. folgendes angab: "Er sei im Camp Kibati vergewaltigt worden. Die litauische Polizei habe sie geschlagen."
Auch gab er an, "er sei erheblich erkrankt und sei bereits in seinem Heimatland Opfer mehrfacher Vergewaltigungen geworden". Deshalb, so die Anwälte von A. gegenüber den Richtern, könne er nicht nach Litauen abgeschoben werden, da "eine erhebliche Retraumatisierungsgefahr" bestünde.
Im März 2025 war er ausreisepflichtig
Im Frühjahr 2025, im März, ist schließlich Muhammed A. nach dem abschließenden Gerichtsurteil vollziehbar ausreisepflichtig. ABER: Kein Beamter wusste angeblich zu der Zeit, wo der Iraker sich aufhält. Die zuständige Ausländerbehörde notierte im Herbst 2024, dass er "unbekannt verzogen" war.
Der Iraker stellt dann im April noch einen Asylantrag in Deutschland, einen sogenannten "Folgeantrag". Zu der Zeit wohnt er in einer Asylunterkunft in Friedland. Er erhielt ein Schreiben von dem BAMF, dass er sich dort persönlich erklären muss. Doch er traucht nie auf.
Dann schließlich im Sommer, droht Muhammed A. eine Gefängnisstrafe, weil er eine Geldstrafe nicht beglich. Die Ausländerbehörde reagierte und stellte einen "Antrag auf Abschiebehaft".
Das Amtsgericht Hannover wies jedoch die Klage ab! Euronews wollte wissen: Warum?
Amtsgericht erklärt: Behörde stellte fehlerhaften Antrag!
Das Amtsgericht teilt nach Euronews-Nachfrage mit, dass die Landesaufnahme "einen Antrag auf Anordnung sog. Überstellungshaft" gestellt hatte. Doch er war "unzulässig". Voraussetzung für die Anordnung von Überstellungshaft ist „erhebliche Fluchtgefahr“.
Bedeutet: Der Antrag war mangelhaft und unzureichend gestellt worden.
Der Sprecher des Amtsgerichts in Hannover erklärt: "Stellt eine Ausländerbehörde einen Antrag auf Anordnung von Überstellungshaft, muss sie detailliert darlegen und begründen, dass diese Umstände vorliegen". Weiter sagt er: "Fehlt es an diesen Darlegungen, muss der Antrag zurückgewiesen werden. Das war auch hier der Grund für die Ablehnung."
Das Gericht erklärt gegenüber Euronews deutlich: "Umstände, aus denen sich nach dem Gesetz eine erhebliche Fluchtgefahr ergeben könnte, hat die Ausländerbehörde nach Auffassung des Gerichts NICHT ausreichend dargelegt."
Für das Amtsgericht ist sogar klar, dass die Landesaufnahmebehörde einen Fehler gemacht hat. Der Sprecher des Gerichts sagt: "Das Amtsgericht war nicht der Auffassung, dass man den Betroffenen nicht hätte in Haft nehmen können. Vielmehr war der Antrag nach Auffassung des Gerichts unzureichend begründet, dass das Gericht dies gar nicht prüfen durfte."
Heißt übersetzt: Das Amtsgericht wäre sogar der Auffassung gewesen, A. müsse nach deutschen Rechtsstand in Abschiebehaft, doch aufgrund des schlecht gestellten Antrages der Behörde sei dies gar nicht möglich gewesen. Der Antrag ist SO mangelhaft verfasst, dass das Gericht es gar nicht hätte prüfen müssen.
Ausländerbehörde versäumte es, Beschwerde einzulegen
Nach Informationen von Euronews hatte das Amtsgericht sogar die zuständige Ausländerbehörde vor seiner Entscheidung auf die Mängel drauf aufmerksam gemacht – und noch der Behörde Zeit zur Nachbesserung gegeben! Doch: die Behörde hat danach es immer noch nicht geschafft in ihren neuen Ausführungen, die Mängel zu beheben.
Und es kommt noch brisanter: Wie Euronews erfuhr, hat die Ausländerbehörde nicht einmal in der 1-Monat-Frist es geschafft, eine Beschwerde gegen den ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts zu erheben. Das hätte die Behörde beim Landgericht tun müssen.
Daraufhin: Kam Muhammed A. wieder auf freien Fuß.
Richter sahen keine Belege für psychische Erkrankung
Der 31-jährige Iraker Muhammed A. wurde inzwischen in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen.
An dem besagten 11. August war zuerst die Polizei auf dem Bahnhof Friedland gerufen worden, weil ein Mann randaliert haben soll. Nachdem die Streife dort eintraf, fand sie unter anderem Muhammed A. vor. Der Iraker hätte von sich aus die Polizisten angesprochen, sie zu dem Leichnam von Liana K. auf dem Bahnsteig geführt. Laut der Polizei habe er angegeben, er habe das Mädchen dort liegen sehen. Ein Alkoholtest zeigte einen Wert von 1,35 Promille. Zu der Zeit gab es gegen ihn noch keinen dringenden Tatverdacht. Die Polizei ging erst von einem tödlichen Unfall aus.
Als am selben Abend der Iraker jedoch in der Flüchtlingsunterkunft aggressiv auffiel und in eine Psychiatrie-Klinik kam, fand man DNA-Spuren des Mannes an der Schulter des getöteten Mädchens. Die Ermittler gehen aufgrund der Spuren von einem „kräftigen“ Griff aus.
Als es um seine Abschiebung ging, gab Muhammed A. bereits damals bei den Richtern an, dass er psychische Probleme hatte. Muhammed A. und sein Anwalt hatten zu dieser Zeit keine ärztliche Belege angeführt, dass er psychisch erkrankt ist.
Göttinger Verwaltungsrichter hielten fest: "Soweit der Kläger vorgetragen hat, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, so fehlt es bereits an aktuellen Belegen durch ärztliche Bescheinigungen, die den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Aufenthaltsgesetz genügen."
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