Katastrophenschutz: Werden 10 Milliarden Euro im Bürokratie-Chaos versenkt?

Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CDU) plant einen umfassenden Ausbau des Zivil- und Katastrophenschutzes. Er kündigte einen "Pakt für den Bevölkerungsschutz" an, den größten Modernisierungsschub in diesem Bereich seit Jahrzehnten.
Die Investition soll zehn Milliarden Euro bis 2029 umfassen, wie die Bild-Zeitung berichtete. Wie kann eine solche Summe sinnvoll eingesetzt werden? Was ist eigentlich der momentane Status Quo? Und wo sind weiterhin blinde Flecken, die die Bundesregierung nicht berücksichtigt?
Euronews hat mit Experten für den Bevölkerungsschutz, der Krisen- und Katastrophenforschung, Rettungsdiensten und dem Deutschen Feuerwehrverband gesprochen.
Planlos in die neue Zeit?
Es gibt Stimmen, die fordern eine bessere Koordination, bevor überhaupt tief in die Taschen gegriffen wird. Björn Stahlhut ist Oberst d.R. und Experte Gesundheitlicher Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung. Er kann weder beim Zivil- noch beim Katastrophenschutz einen echten gemeinsamen Plan von Bund, Ländern, Gemeinden und Hilfsorganisationen erkennen. "Und das, wo wir eigentlich mit der Zeitenwende und dem Fokus auf das Jahr 2029 echt viel Druck auf dem System haben", betont er.
Bei der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz (Ahrtal) und NRW im Jahr 2021 hatte sich gezeigt: Die Helfer konnten nicht Herr der Lage werden. Menschen warteten auf ihren Dächern auf Rettung aus der Luft, die nicht kam. Wie groß sind denn nun die Chancen, dass ein Katastrophenmanagement (mit dem angekündigten Budget) in Zukunft funktionieren wird?
"Wir haben eine Aufteilung von Zivilschutz auf der einen Seite und dem Katastrophenschutz auf der anderen Seite", betont Stahlhut. "Für Katastrophen sind explizit die einzelnen Bundesländer zuständig. Alle Defizite, Verwerfungen und auch Fehler, aber natürlich auch alles, was gut, vielleicht sogar optimal und vorbildlich läuft, liegt da in der Verantwortung. Das kann man sicher zukünftig besser machen. So hat etwa die Initiative für einen handlungsfähigen Staat vor wenigen Wochen in ihrem Abschlussbericht die Aufhebung der Trennung von Zivil- und Katastrophenschutz gefordert."
Nur Kompensation zum Ausgleich vergangener Missstände
Die Initiative, deren Schirmherr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist, setzt sich für eine Verzahnung aller relevanten Akteure, also aller Ressorts, Länder, Betreiber kritischer Infrastrukturen, Schlüsselbereiche der Wirtschaft, Gesundheitseinrichtungen, Landwirtschaft und Ernährung sowie der großen Blaulichtorganisationen wie etwa das Technische Hilfswerk und das Deutsche Rote Kreuz bereits in Friedenszeiten ein. "Nur so kann ein gemeinsamer Plan für die Krise oder auch den Krieg gelingen", so Stahlhut.
Aber ob die geplante Summe, die sich ja über mehrere Jahre hinweg erstrecken soll, überhaupt reicht?
Tatsächlich hatten die Länder im Juni 2022 genau die Summe von 10 Milliarden Euro als "Anschubfinanzierung" gefordert. Sinnvoll gestaltet werden könne das Vorhaben aber nur, wenn auch die Länder gleichermaßen investieren, betont Stahlhut. Das aber sei unter den oftmals gegebenen Haushalts-Rahmen oft schwierig.
Mit dem Geld könnten also zunächst einmal die Versäumnisse der letzten Jahre, vielleicht Jahrzehnte kompensiert werden. Eine Investition in die Zukunft sei es nicht und "die Frage danach, was uns ggf. zukünftig bewegt, was wir zusätzlich an Bedrohungen, Risiken, etc. beachten müssen, bleibt zunächst noch ungeklärt."
So gebe es einen deutlichen Missstand bezüglich der Hilfsorganisationen. Seit Jahren kommen demnach Hilfsorganisationen nach dem DRK-Gesetz (DRKG), aber auch nach dem Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz (ZSKG) zu kurz.
Diese Organisationen müssten zunächst eigenes Geld vorstrecken (das durch zweckgebundene Spenden noch sehr eingeschränkt wird), wenn es um die Beschaffung von Materialien für die Hilfeleistung geht. Dann erst wird eine Rechnung an das Land, oder an den Bund gestellt, der diese dann begleicht. "Durch ein festes "Hilfsorganisationen-Budget" für die anerkannten Hilfsorganisationen nach dem DRKG oder dem ZSKG auf Bundesebene könnte Hilfeleistung beschleunigt werden", erklärt Stahlhut. Bei Bedrohungslagen, oder -meldungen könnten dann bereits Beschaffungen anlaufen, denn "das Geld, um schnell zu beschaffen, wäre dann schon vorhanden."
DRK bemängelt: Es wird "nur an Stellschrauben gedreht"
Manche haben das Gefühl, dass jahrelang der Wille fehlte, die Problematik richtig anzugehen. Ein Problem ist offenbar, dass nach Katastrophen (wie z.B. der im Ahrtal) oder gesundheitsbedrohlichen Szenarien wie der Covid-Pandemie, zunächst eine Art Aktionismus entsteht – und wenn die Bedrohungssituation abflacht, gerät das Thema "Schutz" wieder aus dem Blickfeld.
Philipp Wiesener, beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) verantwortlich für nationales Krisenmanagement und gesundheitlichen Bevölkerungsschutz, kritisiert: "Aus meiner Sicht war bisher das größte Problem der fehlende politische Wille dieses Thema richtig nach vorne zu bringen. Hoffentlich meint es diese Bundesregierung nun wirklich ernst, aktuell habe ich zumindest noch gewisse Zweifel", sagt er.
Auch er befürwortet eine Vernetzung.
Ende August hat die Bundesregierung die Einrichtung eines nationalen Sicherheitsrats beschlossen. Wiesener hat Hoffnung, dass dies zu einer Verbesserung der Koordination zwischen den einzelnen Akteuren und Ebenen führt: "Die Übergänge zwischen Katastrophenschutz und Zivilschutz müssen rechtlich und organisatorisch besser abgestimmt werden - für ein durchgängig integriertes System zum Schutz der Bevölkerung. Das kann nur durch Investitionen in die Infrastruktur gelingen und nur dann, wenn wir das gesamte System mitdenken und nicht immer nur an einzelnen Stellschrauben drehen. Zudem könnte eine Stärkung und Ergänzung von Zuständigkeiten des Bundes für Krisenfälle besonderen Ausmaßes hilfreich sein."
Statt Milliarden-Ankündigungen – Bestandsaufnahme
Bevor man mit Zahlen um sich wirft, müsste man doch erstmal wissen, was vorhanden ist - und was nicht, sagen andere.
Im Juni dieses Jahres zeigten Recherchen des NDR, dass zwar 1,5 Millionen Ehrenamtliche im Ernstfall als Zivil- und Katastrophenschützer bereitstehen - eine Übersicht aber, wie viele Menschen tatsächlich als Helfer zur Verfügung stehen, gibt es nicht.
Prof. Martin Voss ist Leiter der Krisen- und Katastrophenforschungsstelle (KFS) an der Freien Universität Berlin. Er sagt, zunächst fehle es daran, herauszufinden, was tatsächlich verfügbar ist - was übrigens vergleichsweise einfach wäre:
"Was wir haben, sind Geisterzahlen. Man weiß nicht, wieviel Helfer zugleich für mehrere Hilfsorganisationen tätig sind. Das sind vielleicht nur 30 oder 40 %, die tatsächlich einsatzbereit wären in einem Zivilschutzfall. Es gibt beispielsweise auch keine Zusammenführung der Informationen über Fahrzeuge. Das alles scheitert am Föderalismus, denn es gibt keine Verpflichtung, diese Informationen zur Verfügung zu stellen. Aber wenn man nicht weiß, was da ist, kann man auch nicht bewerten, was fehlt."
Der Bevölkerungsschutz verkomme dadurch zum Spielball populistischer Instrumentalisierungen. Dabei sei eine Bestandsaufnahme trotz bürokratischer Mauern mit vergleichsweise geringen Mitteln und datenschutzkonform, z.B. mittels Befragungen und statistischen Hochrechnungen, möglich.
"Raus aus der Behördendenke"
Prof. Voss sieht Vernetzungen als Lösungsmodell der Zukunft. Mit vergleichsweise wenigen 10 Millionen Euro pro Jahr könnte man ein "zivilgesellschaftliches Resilienzzentrum" finanzieren. Innerhalb dessen könnten Daten zusammengeführt, Bevölkerungsbefragungen erstellt, Beratungskompetenzen entwickelt sowie Zuständigkeiten hinterfragt und Vorschläge zur Modernisierung erarbeitet werden.
Denn: "Wenn man darauf wartet, bis Behörden aus ihrem "Quarz" herauskommen, wartet man noch viele Jahre. Das ist eine kollektive Beamten-Denke, die jedoch nicht unbedingt nur auf Gewohnheit beruht, sondern auch auf den Zuständigkeiten. Manche können nicht entsprechend handeln, weil sie es nicht dürfen, andere denken, sie dürften nicht, weil sie die Öffentlichkeit fürchten."
In einer Demokratie aber müsse die ganze Gesellschaft muss einbezogen werden, es brauche die Zivilgesellschaft, die die Behördenarbeit ergänzt: Von Vereinen über die Wirtschaft (darunter auch die Chemiebetriebe sowie andere Unternehmen) und die Forschung.
"Momentan liegt unsere Sicherheit in der Hand von Behörden und Hilfsorganisationen", so Voss. "Alle anderen, die diese Sicherheit betrifft, bleiben außen vor."
DRK: Kampf um bundeseinheitlichen Versicherungsschutz
Das DRK weißt darauf hin, dass es auch an grundlegenden Strukturen für seine Freiwilligen fehlt. Tatsächlich ist der Versicherungsschutz hier nicht einheitlich geregelt und hängt von der Art des Einsatzes, dem Bundesland und dem Status der Freiwilligen ab.
Wiesener: "Beim Ehrenamt vermissen wir eine ausreichende Stärkung, u.a. durch eine Besserstellung der Freiwilligendienste und eine bundesweite Helfergleichstellung, die dafür sorgt, dass Ehrenamtliche der anerkannten Hilfsorganisationen wie des DRK mit Ehrenamtlichen der Feuerwehr und des THW endlich hinsichtlich Freistellung und Versicherungsschutz gleichgestellt werden."
Auch bei der Förderung der Widerstandsfähigkeit und Selbsthilfe der Bevölkerung gebe es noch viel Raum nach oben. "Wir bauen darauf, dass sich hier die Pläne in den kommenden Wochen und Monaten noch konkretisieren und es an diesen Stellen Fortschritte geben wird", fügt Wiesener hinzu.
DFV: Koordination und Vernetzung müssen funktionieren
Eine länderübergreifende Denke sei notwendig, nicht nur innerhalb der Bundesrepublik, sondern auch auf EU-Ebene, betonen andere.
Dafür ist ein Schritt offenbar bereits getan: Der Präsident des Deutschen Feuerwehrverbandes (DFV), Karl-Heinz Banse, ist seit Mai auch Präsident des neu gegründeten Verbands der Feuerwehren der Europäischen Union.
Ziele sind u.a. die Stärkung europäischer Zusammenarbeit, eine Koordinierung auf europäischer Ebene - und eine Generierung von Mitteln für den Brandschutz aus dem EU-Haushalt. Der neuen Interessenvertretung gehören rund fünf Millionen Feuerwehrangehörige an.
Banse betont, dass, wenn Schutzmaßnahmen greifen sollen, zunächst "die Führung funktionieren müsse: Bessere Ausbildung, bei länderübergreifenden Einsätzen die Möglichkeit eines länderübergreifenden Führungsstabes, Optimierung und Nutzbarmachung des Gemeinsamen Kompetenzzentrums Bevölkerungsschutz auf Bundesebene, etwa für Lagebilder."
Banse glaubt auch, dass es einen Bewusstseinswandel geben müsse, hin zu mehr Verantwortungsgefühl: "Kennen Sie noch die Sendung Der siebte Sinn? Wenn man so etwas wiedereinführen würde, um die Leute darauf hinzuweisen, was sie nicht machen sollten – ich glaube, das würde helfen!"
Der 7. Sinn war eine bekannte deutsche TV-Serie, die sich mit Verkehrssicherheit befasste. Sie lief von 1966 bis 2015 und hatte das Ziel, Verkehrsteilnehmer – vor allem Autofahrer – über Gefahren im Straßenverkehr, richtiges Verhalten, neue Verkehrsregeln und typische Fehler aufzuklären.
Tropfen auf dem heißen Stein?
Banse erläutert: "Das betrifft alle Bereiche: Wenn jemand an einem Fluss wohnt, dann hatte man früher noch Bretter und Sandsäcke zuhause, um die Fenster abzudichten. Man wusste, wie man sich zu verhalten hat, damit der Schaden nicht zu groß wird. Heute heißt es: Die Feuerwehr kommt doch. Diese Resilienz muss wieder gestärkt werden." Aufklärungsarbeit seitens des Fernsehens mittels entsprechender Sendungen könne möglicherweise dabei helfen.
Prof. Voss betont, dass es sich bei den von Dobrindt angekündigten 10 Milliarden Euro zunächst nur um eine Willenserklärung eines Ministers handelt. Klar sei auch nicht, ob da z.B. auch die Vorbereitung kritischer Infrastrukturen zur Prävention enthalten sein soll.
Dann nämlich sei das Geld nicht mal ein Tropfen auf einen heißen Stein.
Definition: Was unterscheidet Bevölkerungs-, Zivil- und Katastrophenschutz?
Bevölkerungsschutz ist ein Oberbegriff und umfasst alle Maßnahmen, die Leben, Gesundheit und Versorgung der Bevölkerung bei großen Gefahrenlagen schützen sollen:
Katastrophenschutz (Ländersache), Zivilschutz (Bundessache), Gesundheits- und Seuchenschutz, Technische Hilfeleistung (z. B. durch THW), Warnsysteme, Notfallvorsorge.
Der Zivilschutz bezieht sich speziell auf den Schutz der Bevölkerung im Verteidigungs- oder Spannungsfall (z. B. Krieg, militärische Angriffe auf das Inland).
Ziel: Schutz vor kriegsbedingten Gefahren wie Bombenangriffen, ABC-Waffen etc.
Zuständigkeit: liegt beim Bund.
Maßnahmen: Bau von Schutzräumen, Sirenennetze, Warnsysteme, Evakuierungspläne, Selbstschutzschulungen etc.
Der Katastrophenschutz ist zuständig bei naturbedingten oder technischen Großschadenslagen im Inland wie:
Überschwemmungen, Waldbrände, Stromausfälle, Pandemien, Chemieunfälle etc.
Ziel:** Gefahrenabwehr, Hilfeleistung und Schadensbegrenzung bei Katastrophen.
Zuständigkeit: liegt bei den Ländern (föderale Struktur). Organisation durch Kommunen, Feuerwehren, THW, Hilfsorganisationen.
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