Islamisten auf der "Siegerstraße": Algorithmen rekrutieren neue Kämpfer in Deutschland
                        Er hat einen Terroranschlag geplant - "mittels einer selbstgebauten Spreng- oder Brandvorrichtung durch Explosionen", heißt es in einer Pressemitteilung der Generalstaatsanwaltschaft Berlin.
Am Samstag wurde ein terrorverdächtiger Syrer im Stadtteil Berlin-Neukölln festgenommen. Der 22-Jährige sitzt nun in Untersuchungshaft.
Der Vorwurf: "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sowie das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen".
Wie? Durch die sozialen Medien. "Es gibt kaum einen Terroranschlag, bei dem die sozialen Medien, nicht eine signifikante Rolle spielen", sagt Terrorismus-Experte Dr. Hans Jakob Karl Schindler zu Euronews.
Soziale Medien übernehmen die Radikalisierung - "Ganz automatisch"
"Die Zeiten, in denen die Al-Qaida jahrelang Personen in Moscheen ansprechen, testen und versorgen musste, die sich dann langsam radikalisiert haben, sind einfach vorbei", sagt Schindler. Soziale Medien übernehmen das "fast schon automatisch", so der Terrorismus-Experte.
Das Problem: "Unsere Behörden in Deutschland sind immer noch rechtlich nicht in der Lage, [das Netz] systematisch mit künstlicher Intelligenz zu durchforsten", sagt Schindler.
Die Anschlagspläne des syrischen Islamisten konnten laut Tagesspiegel nur mit Hinweisen eines ausländischen Nachrichtendienstes aufgedeckt werden.
Große Internetplattformen wie Meta, X oder YouTube seien nicht dazu verpflichtet, proaktiv mitzuwirken, sagt Schindler. Dabei haben die Plattformen alle Daten.
"Sie müssen eigentlich diejenigen sein, die rechtlich verpflichtend hier Hinweise geben", so Schindler.
Derweil wächst der Islamische Staat und das Internet hilft ihm dabei. Wie ein Spinnennetz verbreitet sich der Terror überall auf der Welt - schneller und effektiver, als jemals zuvor.
Terror-Verdächtiger schon vor Ankunft in Deutschland radikalisiert?
Wie genau die Radikalisierung des 22-jährigen Syrers stattgefunden hat, ist noch unklar. Die Ermittlungen laufen. Über Tatort und Zeit des geplanten Anschlags ist ebenfalls noch nichts bekannt. Die Beweismittel werden noch ausgewertet, teilte die Staatsanwaltschaft Euronews mit. Es gibt noch nichts Konkretes.
Bekannt ist: Der Verdächtige ist 2023 nach Deutschland gekommen. War er zu dem Zeitpunkt etwa schon radikalisiert?
Bei einigen Tätern in Deutschland war das in der Vergangenheit der Fall. Erst vergangene Woche wurde ein mutmaßlicher IS-Kämpfer in Augsburg festgenommen. Dem irakischen Staatsangehörigen wird vorgeworfen, sich 2016 in Syrien dem IS-Staat angeschlossen und für ihn gekämpft zu haben.
Auch der Täter von Solingen, Issa al H. hatte bereits in seiner Heimat Syrien Kontakt zum IS, das ergaben ZDF-Recherchen. Am 23. August 2024, als Solingen seinen 650. Stadtgeburtstag feierte, stach er mit einem Messer um sich und tötete drei Menschen. Die Terrororganisation IS beanspruchte die Tat für sich.
"Die Leute kommen schon mit extremen Gewalterfahrungen in unsere Gesellschaft"
Doch auch wenn sich der 22-jährige Syrer erst in Deutschland radikalisierte - auffällig ist: Die Täter kommen oft aus Krisenregionen.
"Die Leute kommen schon mit einer extremen Gewalterfahrung in unsere Gesellschaft", sagt Terrorismus-Experte Schindler. Ob der verdächtige Syrer aus Berlin-Neukölln bereits radikalisiert nach Deutschland kam, kann noch nicht bestätigt werden. Doch klar ist: "Keiner kann sagen, dass jemand, der in den letzten 20 Jahren in Syrien aufgewachsen ist, keine traumatischen Erfahrungen hatte", sagt Schindler.
Traumatische Erfahrungen würden die Radikalisierung befördern, erklärt der Terrorismus-Experte. Der Bürgerkrieg in Syrien war ein absoluter Albtraum. Dementsprechend kämen die Leute schon mit einer extremen Gewalterfahrung hier in unsere Gesellschaft, so Schindler.
Erschwerte Integration fördert Isolation - Islamisten nutzten das aus
Hinzu kommt die Integration in eine freiheitlich-demokratische Ordnung – ein komplexer Prozess, der in Teilen nicht besonders gut finanziert werde, so der Experte. Genau hier greift die IS-Taktik: "Extremistische Ideologien haben den Vorteil, dass sie die Komplexität des modernen Lebens reduzieren", erklärt Schindler. "Es gibt nur noch Gut und Böse, richtig und falsch, schwarz und weiß", so der Terrorismusexperte.
Das holt die Betroffenen ab. Geflüchtete machen Ausgrenzungserfahrungen. Das sei ganz normal, wenn man in ein fremdes Land kommt, meint Schindler. Doch genau das spielt Extremisten in die Hände, denn ihnen geht es darum, "den Einzelnen von seinen gesellschaftlichen Kontakten zu isolieren". Die Betroffenen leben dann komplett in einer durch die sozialen Medien generierten Parallelrealität, so Schindler.
Im Zuge des Radikalisierungsprozesses werden alle anderen immer stärker als Feinde wahrgenommen, meint der Terrorismus-Experte. "Am Ende steht das Feindbild so stark, dass Sie es als ihre Pflicht empfinden, etwas zu tun und Gewalt auszuüben".
Erschwerend kommt hinzu, dass der wachsende Terrorismus in anderen Ländern die Radikalisierung auch in Deutschland bestärkt: "Wir haben weiterhin eine ziemlich komplexe Gefährdungslage", warnt Schindler. Vor allem in Afrika gäbe es einen unglaublichen Anstieg vom IS und Al-Qaida. Das sei ein "Riesen-Ausbreitungsgebiet" und das motiviere wiederum die Szene, so der Terrorismus-Experte.
Der IS bedient sich dabei eines ganz gefährlichen Siegernarrativs: "Die gesamte islamistische Szene sagt: 'Wir haben die UN und die Amerikaner aus Afghanistan vertrieben […] Wir haben uns hier etabliert'". Der Terrorismusexperte warnt: "Die Szene fühlt sich auf der Siegerstraße".
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