Ein Jahr nach Assad-Sturz: Droht eine neue Fluchtwelle aus Syrien?
Bundeskanzler Friedrich Merz sieht nach dem Sturz des Assad-Regimes keinen Grund mehr für Asyl in Deutschland. Der Bürgerkrieg in Syrien ist vorbei, heißt es. Doch Kritiker warnen vor Risiken für Minderheiten und Frauen. Tareq Alaows, ehemaliger syrischer Geflüchteter und flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl, warnt vor vorschnellen Schlüssen. Als das Assad-Regime Anfang Dezember 2024 stürzte, war auch er zunächst zuversichtlich.
"Für mich war das ein Moment der Hoffnung, dass wir eine Demokratie und einen Rechtsstaat in Syrien aufbauen können - bis wir eine Klatsche von der Realität gekriegt haben", erzählt Alaows zu Euronews.
Am 29. Januar 2025 kommt jemand an die Macht, von dem Kritiker sagen, er strebe keine Demokratie an. Sein Name: Ahmed al-Scharaa, Ex-Anführer eines Ablegers der al-Qaida in Syrien.
Tareq warnt: "Das sind Dschihadisten"
"Das sind Dschihadisten", warnt Alaows. Schon kurz nach dem Sturz von Assad fangen die neuen Machthaber in Syrien an, Minderheiten, LGBTIQ-Menschen und Frauen zu verfolgen und zu unterdrücken, sagt Alaows.
"Sie haben kein Interesse an der Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil sie selbst Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Nordwesten Syriens begangen haben", so der Menschenrechtsaktivist.
Viele Syrer befürchten, dass der neue Machthaber sich nicht von seiner Terrorvergangenheit als ehemaliges al-Qaida-Mitglied und Anführer der Islamistenmiliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) verabschiedet habe.
"Dieser Machthaber unterdrückt wieder Minderheiten und verursacht Flucht", erzählt Tareq. "Oppositionelle werden nach und nach aus dem Land verdrängt, Minderheiten und Frauen werden unterdrückt, LGBTIQ-Menschen haben es überhaupt nicht sicher in Syrien."
Berichte über Massaker an religiösen Minderheiten
Es kursieren Berichte über Massaker an religiösen Minderheiten: etwa an den Alawiten, einer religiösen Minderheit innerhalb des Islam, der auch die Familie Assad angehörte. Am 6. März 2024 kam es zwischen den Truppen von al-Assad und der Minderheit zu schweren Kämpfen. Insgesamt wurden bei den Massakern etwa 1.400 Menschen getötet, überwiegend Zivilisten, so die United Nations.
Laut einem Bericht wurden die im März getöteten Opfer ermordet und gefoltert und die Leichen der Toten verstümmelt. Einige der Taten wurden gefilmt und in den sozialen Medien veröffentlicht. In einigen der Videoaufnahmen sei gesagt worden: "Wir sind gekommen, um die Alawiten zu töten", berichtet der Leiter der in Großbritannien ansässigen syrischen Beobachtungsstelle SOHR. Die Übergangsregierung begründete die Kämpfe damit, dass es einen Überfall von Assad-Anhängern auf Sicherheitskräfte in der von Alawiten bewohnten Provinz Latakia gegeben habe.
Doch im Juli gab es weitere Gefechte, diesmal mit Drusen, in der Provinz Suwaida. UN-Experten schlugen Alarm: Es gab Berichte über Morde, Verschleppungen, Entführungen, Plünderungen, Zerstörung von Eigentum sowie sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen.
Al-Scharaa rief zur Waffenruhe auf - und bezeichnete die blutigen Ausschreitungen als eine "Herausforderung". Seitdem sind viele aus der syrischen Gemeinschaft misstrauisch. Viele Syrer bezweifeln, ob al-Scharaa die eigenen Sicherheitskräfte unter Kontrolle habe.
Wer ist Ahmed al-Scharaa?
Doch, wer ist Ahmed al-Scharaa? Sein früherer Kampfname: Abu Mohammed al-Dscholani. Vor einigen Jahren hatten die USA Kopfgeld von zehn Millionen US-Dollar auf al-Sharaa gehoben. Noch vor einem Jahr galt er in den USA als gesuchter Terrorist. Heute empfangen ihn Weltmächte wie die USA. Der UN-Sicherheitsrat hat Sanktionen gegen ihn aufgehoben - er wird international anerkannt.
"Was weh tut, ist, dass die internationale Gemeinschaft gerade versucht, genau diese Gruppe mit Ahmad Al-Sharaa in Syrien geradezu zu legitimieren. Hauptsache, Sie haben einen Ansprechpartner in Syrien. Sie drücken gerade ein Auge zu", kritisiert Alaows.
Dass Weltmächte mit Dschihadisten liebäugeln findet er gefährlich. Das könnte in einer neuen Fluchtwelle enden. Alaows kritisiert, dass die Flüchtlingspolitik nicht nachhaltig sei.
Flüchtlingspolitik sei nicht nachhaltig, so Alaows
"Das Ziel wäre es, die Menschen so weit wie möglich davon abzuhalten, nach Deutschland oder nach Europa zu fliehen. Das wird aber nicht funktionieren."
Die Menschen würden fliehen, weil weil es Kriege und Krisen in den Herkunftsländern gibt. Es helfe auch niemandem, wenn Menschen zurückgeschickt werden. "Wenn es in zwei Jahren wieder eskaliert, dann sind sie wieder auf der Flucht", sagt Alaows.
Er selbst floh weil er in seinem Land verfolgt wurde. Er hatte Syrien nicht freiwillig verlassen. Weil er Menschenrechtsverletzungen dokumentierte, wurde er auf das Schlachtfeld geschickt. Der IS sollte ihn erledigen. Das Assad-Regime wollte sich "die Hände Waschen" und ihn nicht selbst ermorden müssen, berichtet Alaows.
Bei der neuen Regierung beobachtet er ähnliche Muster. Die Verfolgung von Minderheiten - das seien Ereignisse, die es auch damals in den Sechzigern unter dem Assad-Regime schon gab, bemerkt Alaows.
Verschiedene Regimes - gleiche Methoden?
"Der Unterschied ist, dass das Assad-Regime sich auf nationalistische Ideologie gestützt hatte. Die neuen Machthaber stützen sich auf religiöse Ideologie. Die Methoden sind dieselben."
Was tun? Alaows glaubt, Europa müsse mehr Druck auf die derzeitigen Machthaber in Syrien ausüben. Denn nur, wenn sich die Menschen sicher fühlen, können sie auch dauerhaft zurückkehren.
Alaows kritisiert: "Bereits während des Massakers an den Drusen hat der deutsche Vertreter bei einem Treffen vor Ort in Syrien nicht einmal ein Wort über die Massaker verloren."
Der deutsch-syrische Menschenrechtsaktivist redet viel mit Menschen aus Syrien. "Die Mehrheit der Menschen sagt: 'Wenn es wirklich Stabilität im Land gibt, dann würden wir zurückkehren, um das Land wieder aufzubauen."
Die wertvollen Erfahrungen, die sie im Exil in Deutschland und Europa sammeln konnten, könnten sie in Syrien einbringen und den Wiederaufbau der Infrastruktur, der Wohnungen und Städte, und vor allem der Demokratie voranbringen. "Das wäre sehr wichtig nach fast 60 Jahren Diktatur", sagt Alaows.
Doch dafür fehlten zurzeit jede Sicherheit und die politische Basis. "Aufgrund der Verbreitung von Waffen im gesamten Land sehe ich keine Sicherheit. Jeder kleinste Konflikt kann so dermaßen eskalieren, dass alle in der Region betroffen sein können", warnt Alaows.
Er erwartet mehr von demokratischen Regierungen Europas und von Deutschland: "Wir brauchen mehr politischen Druck auf die neuen Machthaber."
Öffentliche Äußerungen von europäischen Politikern würden helfen. Denn sie schützen die Menschen vor Ort, weil sie zeigen, dass diese Ereignisse von außen gesehen werden, so Alaows.
Das Wahren der Menschenrechte müsse zur Bedingung für Entwicklungsgelder gemacht werden, findet der Ex-Geflüchtete.
"Wir haben ein politisches Gewicht. Wir können diplomatischen Druck auf die Machthaber in Syrien ausüben. Das ist bisher leider noch nicht geschehen."
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