"Sie können dich einfach holen": Ukrainischer Soldat spricht über erzwungene Frontverlegung
Anfang Dezember erfuhr Mykola*, dass er zu denjenigen seiner Einheit gehören könnte, die für eine Verlegung an die Front im Osten der Ukraine ausgewählt werden – dort, wo russische Angriffe abgewehrt werden sollen. "Der Fokus der Verlegung liegt auf denen, die 2022 freiwillig zu den Luftverteidigungs- und Luftstreitkräften gestoßen sind", glaubt Mykola. "Mein Kommandeur sagte mir, dass der Generalstab eine bestimmte Anzahl Männer an der Front benötigt, gab jedoch keine weiteren Details", erzählt er Euronews.
Der Auswahlprozess ist eingeschränkt, da Frauen, ältere Männer und Soldaten mit gesundheitlichen Problemen in der Regel nicht an die Front geschickt werden dürfen. Mykola erinnert sich, dass die Kommandeure zunächst fragten, ob sich jemand freiwillig melden wolle. "Danach wählen sie diejenigen aus, die unmotiviert sind, ihre Aufgaben zu erfüllen, oder ihre Arbeit schleifen lassen. Manche Kommandeure nutzen die Gelegenheit, um Leute loszuwerden, die sie nicht mögen", meint der Soldat.
Abgesehen davon, dass er Teil der Männerquote für die Front sei, erhielt Mykola keine Informationen darüber, ob er in irgendeiner Form Training bekommen würde. Er habe gehört, dass Soldaten in manchen Fällen nur eine kurze Gefechtsausbildung erhalten würden. Falls die Verlegung jedoch dringend sei, würde wahrscheinlich gar kein Training angeboten. Mykola bestätigte, dass er seit seinem Eintritt in die Armee 2023 keine Ausbildung erhalten hat, die für den Fronteinsatz geeignet wäre.
Als Russland 2022 mit seiner großangelegten Invasion der Ukraine begann, fühlte Mykola sich schuldig, seine Heimat nicht zu unterstützen, und beschloss, im Sommer 2023 zur Armee zu gehen. Ohne vorherige Kampferfahrung oder militärisches Wissen war ihm klar, dass die Wahrscheinlichkeit, im Einsatz getötet oder schwer verletzt zu werden, höher war als die, zu überleben.
Damals konnten Männer, die sich freiwillig meldeten, bis zu einem gewissen Grad ihre Einheit wählen. Mykola entschied sich für die Luftstreitkräfte, um einen Beitrag dazu zu leisten, seine Mitbürger vor russischen Raketenangriffen zu schützen. Zusammen mit seinen Kameraden erhielt er eine grundlegende Ausbildung, die auf die Luftverteidigung ausgerichtet war. Einige Soldaten wurden sogar in NATO-Länder geschickt, um den Umgang mit solchen Systemen zu lernen. Da Mykola diese jedoch nicht direkt bedient, erhielt er lediglich eine Basisausbildung in der Ukraine.
Verlegung von Nachschubeinheiten
Angesichts der sich zuspitzenden Lage an den Frontlinien im Gebiet Donezk ist die Ukraine gezwungen, mehr Männer in die Infanterieeinheiten in Donezk zu schicken. Die Armee scheint inzwischen dazu übergegangen zu sein, Soldaten aus anderen Einheiten abzuziehen, darunter auch aus Nachschub- und Luftverteidigungseinheiten. Nachschubeinheiten spielen eine entscheidende Rolle: Sie leisten hinter der Front logistische und operative Unterstützung, darunter die Versorgung der Fronttruppen mit Nachschub, Munition, Reparaturen, medizinischer Versorgung und Kommunikationssystemen.
Mykola, der sich gemäß dem Gesetz "Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst" verpflichtet hat, bis zum Ende der Kriegszeit zu dienen, ohne einen spezifischen Vertrag zu unterschreiben, gehört zum Logistikpersonal einer Luftverteidigungseinheit. Unter der Bedingung der Anonymität sprach der Soldat, den Euronews als Mykola bezeichnet, darüber, wie seine Einheit den Befehl erhielt, 30 Prozent ihrer Soldaten an die Front im Gebiet Donezk abzustellen.
Mykola erklärt gegenüber Euronews, dass er bislang keine weiteren Details darüber erhalten habe, wann oder welchen Infanterieeinheiten er zugeteilt werden könnte. Er schildert, dass sein Kommandeur derzeit verhandle und versuche, hochrangige Offiziere davon zu überzeugen, die Anzahl der aus ihrer Luftverteidigungsbrigade an die Front verlegten Soldaten zu reduzieren. In diesen Verhandlungen habe der Kommandeur die Bedeutung der Nachschubeinheiten hervorgehoben, betont Mykola.
Es sei nicht das erste Mal, dass der Generalstab einen bestimmten Prozentsatz an Soldaten fordere, berichtet er. Bereits Anfang des Jahres seien etwa zehn Prozent der Männer an die Front verlegt worden. Mykola erinnert sich, dass sie entweder im Einsatz gefallen oder schwer verwundet zurückgekehrt seien. Kurz darauf sei eine weitere Welle von Männern an die Front geschickt worden, fügt er hinzu.
"Sie brauchen Menschen, also nehmen sie sie aus jeder Einheit", sagt er und betont, dass diese Soldaten jahrelang geschult wurden, um Luftverteidigungssysteme oder FPV-Drohnen zu bedienen, und daher nicht leicht zu ersetzen seien. Er sorgt sich, dass die Armee das menschliche Leben nicht mehr wertschätze – ein Grund, weshalb seiner Meinung nach so viele ukrainische Männer desertieren oder aus dem Land fliehen.
Mykola trat der Luftwaffe mit dem Ziel bei, bis zum Ende des Krieges in dieser Einheit zu dienen. Doch er glaubt, dass diese Verträge mittlerweile keinerlei Bedeutung mehr haben, da Soldaten unabhängig davon in Infanteriebrigaden versetzt werden. "Sie können dich einfach holen", wiederholt er beunruhigt.
Auf die Frage nach der Stimmung unter ihm und seinen Kameraden sagt Mykola, es gebe keinen positiven Geist mehr, und die Soldaten fühlten sich nicht wertgeschätzt. "2022 konntest du noch wählen, zu welcher Einheit oder Brigade du wolltest, und sie haben auf deine Fähigkeiten geachtet", erklärt er. "Damals wurden Menschen geschätzt, die etwas Nützliches mitbringen konnten." Jetzt sei das nicht mehr der Fall, fügt er hinzu.
Verteidigung an allen Fronten
In den ersten Monaten der großangelegten russischen Invasion forderte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die westlichen Partner seines Landes auf, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten. Das hätte bedeutet, dass westliche Verbündete ihre Kampfjets entsenden, um russische Luftangriffe auf ukrainische Städte zu verhindern.
Aus Angst, eine von Putins "roten Linien" zu überschreiten, hat sich die NATO jedoch entschieden gegen eine Schließung des ukrainischen Luftraums ausgesprochen und stattdessen militärische Unterstützung zugesagt. Seitdem hat Selenskyj immer wieder um Luftabwehrsysteme wie Patriots oder Iris-Ts gebeten.
Die Verteidigung des Luftraums ist nicht die einzige Herausforderung der Ukraine im Kampf gegen Russlands Angriffe. Im Osten des Landes, im Gebiet Donezk, rücken russische Truppen auch am Boden weiter vor. Sie gewinnen stetig Gelände in Richtung strategisch wichtiger Stellungen wie Pokrowsk, das zugleich als logistisches Drehkreuz für die ukrainischen Streitkräfte dient.
Laut Suspilne Donbas verstärken russische Truppen ihre Bemühungen, ihre Positionen zu sichern und Angriffe auf die südöstlichen Außenbezirke von Pishchane zu starten – einem Dorf, das etwas mehr als neun Kilometer von Pokrowsk entfernt liegt. "Derzeit ergreifen Einheiten unserer Truppen Maßnahmen, um die taktische Position zu verbessern", meldete der Militärbezirk Chortyzja auf Telegram.
In einer Erklärung vom 29. November bestätigte der Oberbefehlshaber Oleksandr Syrsky, dass die ukrainischen Truppen in der Nähe von Pokrowsk und Kurachowe im Gebiet Donezk mit zusätzlichen Reserven, Munition, Waffen und Ausrüstung versorgt werden sollen. Welche Reserven genau entsandt werden, ließ er offen.
Verluste an den östlichen Fronten der Ukraine werden teilweise auf einen Mangel an Personal zurückgeführt, was angesichts der intensiver werdenden Kämpfe Besorgnis über die Belastung der ukrainischen Truppen auslöst. Nachdem das Wehrpflichtalter in diesem Jahr von 27 auf 25 Jahre gesenkt wurde, weigert sich Präsident Selenskyj, das Einberufungsalter auf 18 Jahre herabzusetzen, wie es kürzlich von den USA vorgeschlagen wurde. Er begründete dies mit der Notwendigkeit, Leben zu schützen.
In einem Interview mit The World erklärte Olena Trehub, Geschäftsführerin der unabhängigen Anti-Korruptions-Kommission in Kyjiw, dass die Rekrutierungszahlen auf 15.000 bis 20.000 Soldaten monatlich zurückgegangen seien, da viele erfahrene Soldaten getötet oder verwundet wurden.
"Nicht aus guten Zeiten"
Am 2. November schrieb die umstrittene ukrainische Politikerin Mariana Bezuhla in einem Beitrag auf Telegram, dass Personal aus der Luftfeldsicherung, Artilleriebesatzungen und sogar Patriot-Einheiten zur Infanterie abkommandiert werde. In einem weiteren Beitrag erklärte sie, dass die Abschüsse von Shahed-Drohnen zurückgegangen seien und machte dafür die "Verlegung der Luftabwehrkräfte zur Infanterie" verantwortlich.
Bezuhla steht seit Langem in der Kritik für ihre scharfen Äußerungen über die ukrainische Militärführung und ihren umstrittenen Gesetzesvorschlag, der Gefängnisstrafen für unautorisierte Vertretungen der Ukraine im Ausland vorsah. Sie wurde aus ihrer Position im Parlamentsausschuss für nationale Sicherheit und Verteidigung entlassen und trat aus der Partei von Präsident Selenskyj aus.
Die Aussagen Bezuhlas wurden von Juri Ihnat, dem Leiter des Pressedienstes des Luftwaffenkommandos der ukrainischen Streitkräfte, scharf kritisiert. Auf Facebook bestätigte er jedoch die Verlegung von Personal der Luftwaffe und anderer Einheiten zur Infanterie: "Ja, ich kann bestätigen, dass das passiert! Nicht aus guten Zeiten … und es sind viele. Diese Verlegungen sind für die Luftwaffe sehr schmerzhaft und wirken sich natürlich auf das Gesamtbild aus. Aber es gibt entsprechende Entscheidungen, die wir umsetzen müssen, und ihr wisst, warum!"
Trotz der Bestätigung der Personalverlegungen wies Ihnat Bezuhla scharf zurück und widerlegte ihre Behauptungen über einen Rückgang bei den Drohnenabschüssen. Er betonte, dass alle Verteidigungskräfte – Luftwaffe, Bodentruppen, Marine und Grenzschutz – an der Bekämpfung von Drohnen beteiligt seien, und hob die Genauigkeit der täglichen Berichte der Luftwaffe hervor.
"Die Ukraine wird überleben"
Die westlichen Partner der Ukraine haben das Land mit militärischer Unterstützung versorgt, doch viele dieser Lieferungen wurden von langwierigen Debatten und Diskussionen begleitet – aus Angst, eine der zahlreichen roten Linien zu überschreiten, die der russische Präsident Wladimir Putin gezogen hat. "In der Ukraine glauben wir nicht an diese roten Linien", fügt Mykola hinzu.
Die Furcht, solche roten Linien zu verletzen, hat viele westliche Regierungen davon abgehalten, der Ukraine die Mittel an die Hand zu geben, die nötig wären, um Russland zu besiegen. In Deutschland etwa flammt die Debatte um die Taurus-Marschflugkörper immer wieder auf – besonders jetzt wieder im Zuge des Wahlkampfs für die bevorstehenden Neuwahlen.
Auf einer SPD-Landesvertreterversammlung in Potsdam soll Scholz gesagt haben: "Die Ukraine wird überleben, wird lebendig und stark sein – und es muss einen Frieden geben, der dem Töten ein Ende setzt." Laut Bild-Zeitung bekräftigte er erneut seine Ablehnung, der Ukraine weitreichende Waffen zu liefern, die Ziele tief im russischen Hinterland treffen können. "Es wäre falsch zu sagen, dass wir jetzt wollen, dass der Krieg so geführt wird, dass die von uns gelieferten Waffen tief ins Hinterland reichen. Deshalb sage ich hier ganz klar: Das werde ich nicht tun."
Vor Kurzem erklärte Selenskyj, dass Frontrotationen durch einen Mangel an Ausrüstung für Reservebrigaden behindert würden, was Soldaten dazu zwinge, sich erschöpft zurückzuziehen.
Hochqualifizierte und erfahrene Soldaten werden in Reserveeinheiten eingesetzt, doch die langsame Ausstattung der Brigaden – eine Verzögerung, die Selenskyj auch den verspäteten Militärhilfen der westlichen Partner der Ukraine zuschreibt – führt dazu, dass die Soldaten nicht angemessen ersetzt werden können. Laut dem Präsidenten könnte die russische Offensive im Osten gestoppt werden, sobald diese Reservebrigaden ausgerüstet sind.
Euronews hat beim Generalstab der ukrainischen Streitkräfte angefragt, ob Luftabwehreinheiten an die Front verlegt werden, doch bis zur Veröffentlichung keine Antwort erhalten.
*Name aus Sicherheitsgründen geändert.
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