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Die letzte Chance: Evakuierung der ukrainischen Zivilbevölkerung

• Dec 17, 2024, 2:12 PM
8 min de lecture
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Denys Khrystov hat fast 200.000 Follower auf Instagram. Um etwas über sein Leben vor der russischen Invasion zu erfahren, muss man auf seinem Account lange runterscrollen. Sein Account ist mittlerweile voll von Videos und Fotos zerstörter ukrainischer Städte.

Als Schausteller, TV- und YouTube-Moderator hat Khrystov früher die Menschen unterhalten. Jetzt rettet er sie von den gefährlichsten Orten an der Frontlinie.

Euronews traf Khrystov in Brüssel, um mit ihm über seine Arbeit inmitten des andauernden Kriegs zu sprechen und über das, was er die neue Kriegs-"Reiseshow" nennt.

Eine Million Kilometer durch die Ukraine

Khrystov meldete sich bereits in den ersten Tagen der Invasion im Februar 2022 als Freiwilliger. Er sagt, er wisse nicht, wie viele Menschen er gerettet habe. Aber er habe die Strecke berechnet, die er in fast drei Jahren quer durch die Ukraine zurückgelegt hat - insgesamt über eine Million Kilometer.

Auf die Frage, ob er sich an die vielen Menschen erinnert, die er nicht evakuiert hat, antwortet Khrystov, er erinnere sich an jeden einzelnen. "Ihre Gesichter und die Informationen über sie sind sowohl in meinem Telefon gespeichert als auch in meinem Gedächtnis verankert", erzählt er.

Die Orte, zu denen er reist, liegen so nahe an der Front, dass es oft keinen Handyempfang oder Internetanschluss gibt. Khrystov wird regelmäßig von Familienmitgliedern kontaktiert, die seine Telefonnummer herausfinden und anrufen, um ihre Angehörigen aus den Städten und Dörfern zu evakuieren, in denen kaum noch etwas vorhanden ist.

Er musste schon einige Male an solche Orte reisen, wo die wenigen Menschen, die nach den organisierten Massenevakuierungen geblieben sind, sich immer noch weigern, die Reste ihrer Häuser und Wohnungen zu verlassen.

Oft verlassen die Menschen an solchen Orten den Keller nicht, er dient ihnen als Schutz vor dem ständigen Beschuss. Sie seien sich der verbrannten Erde um sie herum gar nicht bewusst, sagt Khrystov.

Warum bleiben die Menschen?

Diese Menschen, sagt Khrystov, haben keine Verbindung zur Außenwelt und zu ihren Familien, und sie begreifen nicht einmal das Ausmaß der Gefahr und der Zerstörung.

Ich bin zweimal hingegangen, um einen alten Mann zu evakuieren, und beide Male hat er Nein gesagt. Ich nannte ihn 'meinen sturer Opa'.
Denys Khrystov

Wenn Denys und Freiwillige wie er kommen, um zu helfen und dabei ihr eigenes Leben riskieren, lehnen die Menschen die Hilfe oft ab. Das bedeutet, dass die Freiwilligen immer wieder zurückkehren und versuchen müssen, die Menschen zur Evakuierung zu überreden. Wenn die russischen Streitkräfte näher rücken, bleiben vielleicht nur noch Tage, wenn nicht Stunden, um zu entkommen.

"Ich bin zweimal hingegangen, um einen alten Mann zu evakuieren, und beide Male hat er Nein gesagt. Ich nannte ihn 'mein sturer Opa'. Als ich zum dritten Mal kam, stimmte er schließlich der Evakuierung zu", erinnert sich Khrystov. "Das war spät. Er hätte früher evakuiert werden sollen, aber wenigstens hat er es irgendwie geschafft, rechtzeitig zu entkommen."

Die Siedlung Kyslivka im Bezirk Kupjansk der Region Charkiw, in die Khrystov dreimal gefahren ist, ist inzwischen zerstört und vollständig von russischen Truppen besetzt.

Warum weigern sich die Menschen zu gehen? Khrystov sagt, der alte Mann habe es ihm erklärt: "Ich habe ihn gefragt, warum er bei den ersten beiden Malen nicht zugestimmt hat, zu gehen. Und er sagte, er wolle seinen Kindern nicht zur Last fallen. Das war's."

Er wolle seinen Kindern nicht zur Last fallen.
Denys Khrystov

Khrystov sagt, dass die Menschen den Krieg meist erst bemerken, wenn es zu spät ist. Sie glauben lange einfach nicht, dass der Krieg real ist, sie wollen "nicht glauben, dass es möglich ist, auf dem Weg zum nächsten Geschäft zu sterben."

In den ersten Tagen und Wochen der russischen Invasion im Jahr 2022 sah Khrystov, dass in Russland oft behauptet wurde, die Foto- und Videoaufnahmen von Raketenangriffen und des Beschusses von Zivilisten seien nicht echt.

"Sie schrieben, dass das alles gefälscht sei, dass es inszeniert sei. Da beschloss ich, alles, was ich sehe, zu filmen und zu dokumentieren", erklärt Khrystov. Er sagt, es sei wichtig, so bald wie möglich Dokumentarfilme über den Krieg zu produzieren.

"[Die Filme] werden viele Antworten geben und viele Inhalte der russischen Propagandamaschine in Frage stellen", erklärt Khrystov, auch wenn sein Team "versucht, sich zusammenzureißen, um mit dem Schnitt und der Produktion zu beginnen, weil es emotional sehr schwer ist, überhaupt daran zu arbeiten."

Ein Prozent des Krieges

Khrystov hat keine Crew. Er filmt alles mit seinem Handy, eine GoPro-Kamera hat er an seinem Helm befestigt. Für ihn gibt es keine Filter oder Zensur. Er sagt, es gehe ihm darum, die raue Wirklichkeit der Evakuierung von Zivilisten im Krieg zu zeigen.

Hunderte Stunden Filmmaterial werden nun zu einem Dokumentarfilm verarbeitet, der Titel "One Percent of War".

Der Film erzählt die Geschichte der Evakuierungen aus Awdijiwka, einer Stadt in der Region Donezk, die Mitte Februar dieses Jahres von Russland besetzt wurde.

"One Percent of War" zeigt verschiedene Geschichten von der Evakuierungen: Von einem schwer verwundeten, ukrainischen Soldaten, von einem Dorfbewohner, der als einziger auf der Straße zurückgeblieben war. von der Leiche einer verstorbenen ukrainischen Zivilistin und ihres Hausmeisters und sogar von Tieren.

Khrystov erzählt, wenn Menschen schließlich der Evakuierung zustimmten, gab es oft nur noch eine Straße und nur wenige Tage, teilweise nur noch wenige Stunden, um sie zu erreichen.

Vor der Kamera erzählt einer der evakuierten Zivilisten, den Khrystov aus Awdijiwka gerettet hatte, dass er nach Pokrowsk zu seiner Familie gehen wollte.

Ein halbes Jahr nach dem Dreh ist Pokrowsk der gefährlichste Teil der Frontlinie geworden. Die russischen Streitkräfte rücken nach monatelangem Dauerbeschuss immer näher an die Siedlung heran.

Von den 60.000 Einwohnern, die vor dem Krieg in Pokrowsk lebten, sind die meisten Zivilisten evakuiert worden. Ukrainischen Behörden zufolge leben jedoch noch etwa 11.000 Menschen in Pokrowsk, das ebenso wie Awdijiwka dem Erdboden gleich gemacht werden soll. Viele Zivilisten sind sich wahrscheinlich bewusst, dass für eine Evakuierung kaum noch Zeit oder Wege zur Verfügung stehen.

Das bedeutet, dass Khrystov und Freiwillige wie er erneut ihr Leben riskieren müssen, um die letzte Chance zur Evakuierung der verbliebenen Zivilisten zu nutzen.


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