Kanzler in Not: Wird sein Auto-Gipfel zum Totalschaden?

Friedrich Merz lädt zum Krisengipfel ein: Autochefs, Mobilitätsexperten und Industriekenner beraten mit dem Kanzler am 9. Oktober. Im Fokus steht insbesondere das 2022 auf EU-Ebene beschlossene Verbrenner-Aus. Rudert die Regierung jetzt zurück?
Der Autobranche geht es weiterhin schlecht. "Aus meiner Sicht ist es eine echte Krise", so Achim Kampker, E-Mobilitätsexperte und Professor an der Technischen Hochschule RWTH Aachen. Im Gespräch mit Euronews machte er deutlich: "die Zeit ist knapp", aber mit den richtigen massiven Veränderungen gebe es Deutschland weiterhin als Auto-Standort.
Auch Wirtschaftswissenschaftler Jens Südekum sagte Euronews: "Die deutsche Autoindustrie ist gerade in einem perfekten Sturm". Der Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, zum persönlichen Berater des Finanzministers Lars Klingbeil (SPD) berufen, warnt allerdings vor der Illusion, "dass der Verbrennermotor unter dem Schlagwort Technologieoffenheit einfach weiterläuft".
Mit einem Stellenabbau, der bereits mehr als 50.000 Deutschen den Job gekostet hat, Verlusten im Wettbewerb, sinkenden Gewinnen und Verkäufen steht die Automobilindustrie in Deutschland vor großen Fragezeichen. Der Gipfel in Berlin soll helfen, Lösungen zu finden.
E-Mobilitätsexperte Achim Kampker und Wirtschaftswissenschaftler Jens Südekum erklären Euronews, wo die deutsche Autoindustrie in der Vergangenheit falsch abgebogen ist. Ein Blick in den Rückspiegel.
Autoindustrie: Einst Aushängeschild der deutschen Wirtschaft
"Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, also mit der Aufbauarbeit und dem sogenannten Wirtschaftswunder, hat sich die Automobilindustrie in Deutschland sehr, sehr gut entwickelt", erklärt Kampker zu den Anfängen der deutschen Automobilindustrie.
Insbesondere die Zusammenarbeit mit Firmen im Maschinen- und Anlagenbau entwickelte sich als Erfolgsrezept. Zulieferer spezialisierten sich auf bestimmte Teile, Produktionswerke arbeiteten am Fließband.
Zur Bedeutung der Branche sagt Südekum: "Sie war sozusagen das Aushängeschild der deutschen Wirtschaft und gerade dieser extrem starke Exportfokus, das war über viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte das Erfolgsmodell." Deutschland galt als Vorreiter für Innovation und Technik.
Der Hersteller Volkswagen machte laut Wirtschaftswissenschaftler Südekum in den 2010er Jahren rund 40 Prozent seiner Umsätze am chinesischen Markt. BMW und Daimler hätten auch nicht viel weniger ins Ausland gebracht.
2010er: Die "fetten Jahre" der Automobilindustrie
In relativ kurzer Zeit habe sich die Wettbewerbsposition von Deutschland gedreht, "weil die Transformation hin zu Elektromobilität im chinesischen Markt in vollem Gange ist, auch von der politischen Seite extrem stark gepusht wird", so Südekum. Die deutsche Autoindustrie hingegen verliere massiv Marktanteile in China.
Die Strategie aus China sei nicht neu, bestätigt auch Kampker. Sie seien darauf aus, sowohl bei E-Mobilität und Software-Architektur für automatisiertes Fahren in Spitzenposition zu kommen. China ist inzwischen Technologieführer bei Elektroautos geworden.
"Die chinesische Wirtschaftsstrategie basiert darauf, dass sie wirklich den Weltmarkt geradezu kapern wollen mit günstigen chinesischen Fahrzeugen", stimmt Südekum ein. Die Exportzahlen aus China sind die höchsten weltweit. 2025 könnten zum ersten Mal mehr chinesische Autos auf den europäischen Markt kommen als umgekehrt, so die Prognose einer Studie von PwC.
"Bis letztes Jahr hatte man noch ein bisschen Kompensation im amerikanischen Markt, weil der sehr gut lief und man sehr viel exportiert hat, auch Autos. Aber jetzt durch Trump und die Zollpolitik ist auch das vorbei", ordnet Südekum ein. Derzeit gelten dank eines neuen Handelsabkommen 15 Prozent Zölle auf Autoexporte von der EU in die USA. Zuvor lagen sie bei 27,5 Prozent.
"So gesehen erodiert gerade wirklich weltweit die Wettbewerbsposition der deutschen Autoindustrie", schätzt Südekum. Das schlägt sich auch in aktuellen Zahlen nieder. Die großen Autohersteller BMW, Mercedes, Volkswagen, Opel, Porsche, Audi, leiden unter deutlichen Absatzrückgängen.
Lediglich BMW konnte seine Absatz-Talfahrt zuletzt stoppen. Nach fünf Rückgängen in Folge seit eineinhalb Jahren liefert der Konzern im dritten Quartal von 2025 zum ersten Mal wieder mehr Autos aus als im Vorjahr. Das Unternehmen verzeichnet einen Anstrieg um rund 8,8 Prozent.
Der europäische Markt scheint jedoch gesättigt. In Deutschland wurden im Jahr 2020 noch 3,5 Millionen Autos verkauft, zuletzt waren es aber nur noch 2,8 Millionen Fahrzeuge. 700.000 Fahrzeuge weniger - das entspricht der Produktion von zwei sehr großen Autofabriken.
Der Umsatz der deutschen Automobilindustrie war im Jahr 2024 rückläufig. So wurden insgesamt rund 541,9 Milliarden Euro erwirtschaftet, fast vier Prozent weniger als noch im Vorjahr, zeigen auch Analysen von Statista.
Verschläft Deutschland den Siegeszug der Elektromobilität?
In den "fetten Jahren" habe die deutsche Automobilbranche nicht intensiv genug darüber nachgedacht, was danach komme, so Südekum. Die Transformation hin zu Elektromobilität war absehbar, die Pläne von China in Fünf-Jahres-Programmen öffentlich zugänglich.
"Das hat China angekündigt, auch weil sie die Wertschöpfungskette letztendlich dominieren, was Batterien angeht, was bestimmte Rohstoffe angeht, dass die das massiv staatlich unterstützen werden." Hätte man sich damals entsprechend der Ankündigungen aufgestellt, stünde man heute vermutlich besser da.
Auch Kampker bestätigt, dass sich weltweit der Siegeszug der Elektromobilität angedeutet und vorbereitet hatte. "Einmal inhaltlich, weil die Batterietechnologie einen deutlichen Schritt weiter war und auf der anderen Seite aber auch von politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit den Diskussionen rund um Nachhaltigkeit und CO2."
Politische Fehlentscheidungen - passive Industrie
"Wenn ich einen Fehler benennen sollte, den die Politik gemacht hat, dann war das sicherlich der Stop des Kaufprogrammes für Elektroautos Ende 2024", erklärt Südekum. Die damalige Ampelregierung habe das Programm letztlich über Nacht wegen Haushaltsproblemen gestoppt.
Die Politik habe damit ein fatales Signal gesendet, dass die Transformation zur Elektromobilität nicht so ernst zu nehmen sei.
"Erst in die eine Richtung, dann in die andere Richtung zu gehen. Das ist natürlich Gift für die Industrie", kritisiert E-Mobilitätsexperte Kampker.
Die Experten aus Wirtschaft und Industriepolitik sind sich einig, dass nicht die eine große Entscheidung falsch gewesen wäre, sondern die Kombination aus allen Faktoren zur heutigen deutschen Ausgangslage in der Automobilindustrie geführt hat.
Die erneute Diskussion über das 2022 auf EU-Ebene beschlossene Verbrenner-Aus sehen beide kritisch. Kampker sei durchaus dagegen, eine Technologie zu verbieten, auch wenn er für Elektromobilität stehe, erklärt er im Hinblick auf den bevorstehenden Krisengipfel. Die Flotte an Verbrennerfahrzeugen werde weiterhin fahren und benötige ebenso Innovationen, beispielsweise hinsichtlich der Treibstoffe.
Südekum hingegen warnt davor, dass die Diskussion eine Illusion weiter aufrechterhalte, in welcher Verbrenner-Autos weiterhin im Mittelpunkt stehen. Mit den alten Geschäftsmodellen weitermachen zu wollen, sende ein "völlig fatales Signal".
Diskussion um das Verbrenner-Aus: Hin und Her
"Mir wäre wichtig, dass am Gipfel die klare Botschaft rauskommt, dass das Ziel bleibt, dass wir wirklich diese Transformation zu Elektromobilität machen", ergänzt Südekum. "Das hat im Extremfall die Auswirkung, dass man den Schuss weiterhin noch nicht hört und die notwendigen Investitionen dann weiter auf die lange Bank schiebt".
CSU-Chef Markus Söder besteht hingegen darauf, das in der EU geplante Verbot neuer Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor ab 2035 zugunsten geringerer Emissionen zu kippen. Nötig sei "eine Abkehr von den ideologischen Regularien, die wir in Brüssel haben. Deswegen braucht es ein klares Aus für das Verbrenner-Aus", sagte der bayerische Ministerpräsident. Auch Merz zeigte sich erneut offen für eine Lockerung.
Ab dem Jahr 2035 dürfen in der Europäischen Union keine Autos mehr verkauft werden, die mit Benzin oder Diesel betrieben werden. Weite Teile der Industrie fordern nun, dieses Ziel aufzuweichen. "Das Enddatum braucht eine deutliche Überarbeitung – oder es muss ganz weg", sagte kürzlich BMW-Chef Oliver Zipse.
Ob es eine weitere Wendung in der Verbrenner-Frage und somit auch in der Verteilung von Fördergeldern für die E-Mobilität gibt, oder die Regierung den bisherigen Kurs hält, wird der Gipfel zeigen.
China gegen die Europäer – wer meistert die Transformation besser?
"Der Hauptschuldige ist die Autoindustrie, die eben die guten Jahre, die sie hatten, nicht genutzt haben, um diese dominante Marktposition auch in die Zukunft zu tragen", ordnet Südekum ein. Es sei nicht alleine Aufgabe der Politik, Signale zu senden, die es beispielsweise mit den Flotten-Grenzwerten gegeben habe.
Für Kampker ist klar: Es braucht neu festgelegte Rahmenbedingungen, die Wirtschaft und Nachhaltigkeit vereinen und trotzdem wettbewerbsfähig machen. "Das sind die Rahmenbedingungen der Politik und dann ist es die Aufgabe der Marktwirtschaft, also der Industrie, dafür Lösungen zu finden. Diesen Rahmen sollte man genauso stecken, nicht mehr und nicht weniger."
Kampker macht außerdem deutlich, dass die Zeit drängt. "Alles, was wir jetzt in Europa abbauen, was uns verloren geht, das wird schwierig wieder zu gewinnen sein, also wir müssen uns beeilen." So wird beispielsweise VW mehrere Werke einstellen, um dort strukturell umzugestalten. Die Kapazitäten könnten nach Ansage des VW-Chefs Blume zukünftig anderweitig genutzt werden.
"Keine ideale Voraussetzung, aber Deutschland muss die Werke und Strukturen umgestalten. Einen anderen Weg sehe ich für den Standort Deutschland nicht", wägt auch Kampker ab.
Auch Südekum, der die Pläne für das Sondervermögen der Bundesregierung mitentwickelt hatte, macht deutlich: "Im Kernhaushalt fehlt viel Geld. Ich sehe jetzt nicht, dass wir wieder ein Kaufprogramm auflegen können." Stattdessen sollten Mittel nun in die Forschung und Entwicklung von Batteriezellproduktion gehen.
Das Henne-Ei-Problem der Elektromobilität
"Es ist nicht vorstellbar, wie Deutschland Autoland bleiben will oder Europa diesen Autofokus behalten, wenn wir nicht selber Batteriezellproduktion machen. Ich sehe schon noch die Chance, dass die nächste Generation von Batterien in Europa oder in Deutschland entwickelt werden kann." Für Südekum ist die Batteriezellforschung einer der Punkte, über den Deutschland auch wieder Innovationsführer werden könnte, wie es beispielsweise beim Airbag war.
Ein weiterer Punkt, in dem sich der Top-Ökonom und E-Mobilitätsexperte einig sind, ist die breite Anwendung von Elektromobilität. Während Geschäftswagen oftmals bereits hybride oder Elektro-Modelle sind, zögern Privatpersonen beim Kauf.
Für beide stehe jetzt der Ausbau der Ladeinfrastruktur für E-Mobilität im Vordergrund. "Das ist ein Henne-Ei-Problem", wirft Südekum ein. "Viele private Anbieter wollen die Ladesäulen nicht aufbauen, weil es noch nicht genug Elektroautos gibt. Und weil es nicht genug Ladesäulen gibt, kaufen die Leute keine Elektroautos."
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