Europas Ärzte im Burnout: Tägliche Verzweiflung und Gewalt

Ein Drittel der befragten Gesundheitskräfte gab an, depressiv zu sein. Besonders besorgniserregend: Jede zehnte Person berichtete, im vergangenen Jahr passive Suizidgedanken gehabt zu haben – ein deutlicher Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten.
„Das ist eine unzumutbare Belastung für diejenigen, die sich um uns kümmern. Es muss nicht so sein“, sagte Dr. Hans Henri Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, der die Umfrage im vergangenen Jahr initiiert hatte.
Der Bericht basiert auf den Antworten von über 90.000 Ärzten und Pflegekräften aus der gesamten Europäischen Union, Island und Norwegen.
Belastende Arbeitsbedingungen
Ein wesentlicher Faktor für die psychische Belastung sind die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen. Laut WHO-Bericht war jeder Dritte im vergangenen Jahr am Arbeitsplatz Mobbing oder gewaltsamen Drohungen ausgesetzt. Zudem berichteten 10 Prozent der Befragten von körperlicher Gewalt oder sexueller Belästigung.
Auch Überstunden und unsichere Arbeitsverhältnisse spielen eine große Rolle: Ein Viertel der Ärztinnen und Ärzte arbeitet regelmäßig mehr als 50 Stunden pro Woche, während 32 Prozent der Ärzte und 25 Prozent der Pflegekräfte befristete Verträge haben. Das kann zusätzliche Ängste schüren.
Wer unter Gewalt, dauerhaft langen Arbeitszeiten oder Schichtdienst leidet, hat laut der WHO mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit Depressionen, Angstzustände oder Suizidgedanken.
Gefährdete Patientenversorgung
Psychische Krisen wie Burnout unter Gesundheitsarbeitern hat auch Folgen für Patienten. In verschiedenen Ländern denken 11 bis 34 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen darüber nach, ihren Beruf aufzugeben. Und das inmitten eines ohnehin gravierenden Personalmangels, der bis 2030 auf 940.000 fehlende Fachkräfte anwachsen könnte.
Wenn Ärzte und Pflegekräfte ihren Beruf verlassen oder sich krankmelden, um der psychischen Belastung zu entkommen, geraten die Gesundheitssysteme zusätzlich unter Druck. Das führt zu längeren Wartezeiten und einer Verschlechterung der medizinischen Versorgung.
„Wir sind körperlich und geistig erschöpft – das kann leider manchmal zu ärztlichen Fehlern führen“, sagt Mélanie Debarreix, Assistenzärztin für Radiologie in Frankreich.
Sie verweist auf nationale Daten, nach denen 66 Prozent der französischen Medizinstudierenden im vergangenen Jahr eine depressive Episode erlebt haben. 21 Prozent gaben an, Suizidgedanken gehabt zu haben – drei Mal so häufig wie in der Allgemeinbevölkerung.
WHO fordert sofortiges Handeln
WHO-Direktor Kluge ruft die europäischen Gesundheitssysteme dazu auf, das Wohlbefinden ihrer Beschäftigten deutlich zu verbessern. Dazu gehören eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Gewalt am Arbeitsplatz, eine Überprüfung von Schicht- und Überstundenregelungen, um die „Kultur des Arbeitens bis zur Erschöpfung“ zu beenden, sowie einen besseren Zugang zu psychologischer Unterstützung.
„Die psychische Gesundheitskrise unter unseren Gesundheitsarbeitern ist eine Gesundheitskrise, die die Integrität unserer Gesundheitssysteme bedroht“, warnte Kluge. „Wir können es uns nicht leisten, sie an Burnout, Verzweiflung oder Gewalt zu verlieren.“
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