Freiwilligkeit statt Pflicht: Bundeskabinett beschließt neuen Wehrdienst

"Eine funktionierende Bundeswehr setzt voraus, dass das Land funktioniert", sagte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) über die Wiedereinführung der Wehrpflicht.
In ihrer heutigen Sitzung im Bendlerblock hat die Bundesregierung den Entwurf für ein Wehrdienst-Modernisierungsgesetz verabschiedet und damit das Gesetzgebungsverfahren für den neuen Wehrdienst eingeleitet.
Pistorius plant, die Zahl der Zeit- und Berufssoldaten bis 2035 auf mindestens 260.000 zu erhöhen.
Ziel ist es dem Verteidigungsministerium zufolge, die personelle Stärke der Bundeswehr angesichts neuer Bedrohungslagen auszubauen und bis 2030 rund 460.000 Soldatinnen und Soldaten in aktiver Truppe und Reserve bereitzuhalten.
Pistorius zufolge ist eine "starke Armee –personell und materiell – das effektivste Mittel, Kriege zu verhindern".
Wie sieht Pistorius' Wehrdienst-Modell aus?
Ab 2026 sollen alle jungen Männer und Frauen einen Fragebogen von der Bundeswehr erhalten, in dem ihr Gesundheitszustand, Bildungsabschlüsse und ihr Interesse am Dienst abgefragt werden.
Für Männer ist das Ausfüllen verpflichtend, für Frauen – aufgrund des Grundgesetzes – freiwillig.
Ab 2028 sollen alle 18-jährigen Männer wieder zur verpflichtenden Musterung eingeladen werden.
Mit dem neuen Modell, das vorerst auf Freiwilligkeit basieren soll, will die Bundeswehr bis 2030 rund 100.000 Freiwillige gewinnen. Sollte jedoch eine Bedrohungslage entstehen, könnte der Bundestag die Wehrpflicht mit einer einfachen Gesetzesänderung erneut einführen.
Dann würden alle männlichen Jahrgänge ab 2008, die zuvor über den Fragebogen erfasst wurden, grundsätzlich für den Dienst infrage kommen.
Kritik aus der Union: Fragebögen reichen nicht für Verteidigungsfähigkeit
Pistorius bekräftigte vor der heutigen Kabinettssitzung erneut, beim neuen Wehrdienst zunächst auf Freiwilligkeit zu setzen. Bis Ende des Jahrzehnts sollen so über 100.000 zusätzliche Wehrdienstleistende ausgebildet werden, die zusammen mit der bestehenden Reserve rund 200.000 Reservisten ergeben.
Wie Euronews im Juli aus Ministeriumskreisen erfuhr, kann dieser Bedarf zunächst durch Freiwillige gedeckt werden. Sollte der Bedarf steigen und nicht durch Freiwillige gedeckt werden, sieht das Gesetz eine verpflichtende Heranziehung vor – ohne Automatismus, feste Zahl oder festen Zeitpunkt.
"Sollten wir feststellen, dass wir nachsteuern müssen, dann werden wir das tun. Auch das ist in dem Gesetz bereits angelegt", so Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) bei der heutigen Pressekonferenz.
Mit Fragebögen könne man sich nicht verteidigen, so der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Thomas Röwekamp (CDU), gegenüber Phoenix.
Röwekamp ist nicht der einzige Unions-Politiker, der das auf Freiwilligkeit-basierende Modell bereits kritisierte.
Gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) zweifelte auch Unionsfraktionsvize Norbert Röttgen, dass Deutschland "auf der Basis dieses Gesetzesentwurfes nicht verteidigungsfähig" werde.
Ihm zufolge fehlt es "an jeder Zahl und an jeder Frist, was wann zu erreichen ist, sodass Maßnahmen ergriffen werden können, wenn man die Ziele verfehlt."
Die Union sieht demnach vor, dass die Wehrpflicht automatisch in Kraft tritt, wenn der geplante freiwillige Wehrdienst nicht ausreichend Rekruten für die Bundeswehr liefert.
"Setzen auf Freiwilligkeit"
Genau diesen Mechanismus kritisiert Juso-Chef Philipp Türmer im ntv und bekräftigte, dass "wir gegen Pflichtelemente" sind.
"Wir sind auch gegen aktivierbare Möglichkeiten im Gesetz, die Pflicht dann eben doch wieder einzuführen. Wir brauchen jetzt eine klare Entscheidung, und diese Entscheidung muss lauten, wir setzen auf Freiwilligkeit", so Türmer.
Der Präsident des Reservistenverbands, Patrick Sensburg, sieht Pistorius Modell als einen wichtigen Schritt in Richtung Wehrerfassung.
"Dennoch wird dieser auf Freiwilligkeit basierende Wehrdienst nicht ausreichen, damit wir genügend Reservistinnen und Reservisten bekommen, um die sicherheitspolitischen Aufgaben unserer Zeit zu bewältigen."
Der Reservistenverband fordere deshalb die Wiedereinführung der Wehrpflicht, und das schon seit 2015.
"Denn nur eine Wehrpflicht sorgt dafür, dass wir für die nächsten Jahre ausreichend Reservistinnen und Reservisten rekrutieren, die die Aufwuchsfähigkeit unserer Streitkräfte sicherstellen und damit die Abschreckungsfähigkeit unseres Landes erhöhen", erklärt der Präsident des Reservistenverbands gegenüber Euronews.
Drohnenausbildung, Zuschuss zum Führerschein und Sport-Clubs
Die Bundesregierung will mit dem neuen Wehrdienst junge Menschen zunächst freiwillig für den Dienst gewinnen und ihnen ein breites Ausbildungsangebot bieten.
Ab dem Sommer sollen die Rekrutinnen und Rekruten mit Sicherungs- und Wachaufgaben starten, praktische Erfahrungen in verschiedenen Bereichen der Bundeswehr sammeln und Schulungen, etwa im Umgang mit Drohnen, Sprachkurse, Fortbildungen erhalten sowie finanzielle Unterstützung für den Führerschein.
Pistorius betonte bei einem Truppenbesuch, dass die Ausbildung fachlich exzellent sein und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stolz auf ihre Leistungen und die erlebte Kameradschaft sein sollen.
Zugleich solle der Dienst für das eigene Land als etwas Besonderes erlebbar und die Ausbildung sinnstiftend gestaltet werden.
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