Wiedervereinigung: Experten warnen vor "giftigen Nadelstichen" Moskaus - rasche Aufrüstung gefordert

"Die Nation steht mitten in einer entscheidenden Phase ihrer neueren Geschichte", sagt der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner Rede anlässlich der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit.
Neue Allianzen von Autokratien würden die liberale Demokratie "als Lebensform" bedrohen. Deshalb müsse Europa sich verteidigen können. Doch während der französische Präsident, Emmanuel Macron - ebenfalls bei den Feierlichkeiten anwesend - die Wichtigkeit der militärischen Zusammenarbeit betont, fordert Paris gleichzeitig mehr Mitspracherecht bei dem milliardenschweren deutsch-französischen Kampfflugzeugprojekt FCAS. Ist die Partnerschaft, die Berlin als so entscheidend für die Abwehr russischer Bedrohungen ansieht, gefährdet?
Rückblick
7. Oktober 1949: Deutschland liegt in Ruinen. Der Zweite Weltkrieg hat das Land verwüstet. Dann der nächste Schock: Deutschland wird von den Siegermächten in zwei sich feindlich gegenüberstehende Blöcke geteilt: die sowjetisch besetzte kommunistische Deutsche Demokratische Republik (DDR) und die demokratische Bundesrepublik Deutschland (BRD). Für die nächsten 41 Jahre ist Deutschland gespalten und Freunde und Familienangehörige auf unbestimmte Zeit voneinander getrennt.
Am 9. November 1989 fällt die Berliner Mauer - ein Symbol der deutschen Teilung. Der Mut der Menschen und die friedliche Revolution haben das ermöglicht. Am 3. Oktober 1990 tritt der Einigungsvertrag in Kraft. Deutschland ist endlich wieder vereint. Auch 35 Jahre danach erinnert der 3. Oktober an die traumatische Trennung und die besondere Verantwortung, die Deutschland heute trägt.
Die zentralen Feierlichkeiten finden dieses Jahr im saarländischen Saarbrücken statt. Neben Merz, dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und Macron ist auch eine Delegation aus Polen angereist – ganz im Zeichen der deutsch-französisch-polnischen Freundschaft.
Kann Deutschland gemeinsam mit Frankreich und Polen die Einheit Europas sichern?
Das Weimarer Dreieck scheint zumindest symbolisch wiederbelebt. Es wurde 1991 durch die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens in Weimar gegründet und gilt als "Motor" Europas. Doch kann das Weimarer Dreieck die europäische Einheit sicherstellen, insbesondere angesichts der russischen Bedrohung?
"Dieser vielzitierte deutsch-französische Motor ist in Zukunft noch wichtiger denn je, weil die Herausforderungen noch nie so groß waren", sagt Gunther Krichbaum, Staatsminister für Europa, zu Euronews. "Wir brauchen aber natürlich Polen als mitteleuropäisches Land als Partner und Verbündeten".
"Es wird sich in Europa nichts nach vorne bewegen, wenn Deutschland und Frankreich nicht an einem Strang ziehen. Gemeinsam mit Polen setzen wir im Weimarer Dreieck jetzt entscheidende Impulse für die EU", sagt Krichbaum. "Wenn Europa handlungsfähig sein möchte, dann muss es geeint sein", so Krichbaum zu Euronews.
"Wir sind mächtig unter Druck", bemerkt auch Dr. Patrick Keller, Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) zu Euronews. "Das Verlassen auf Amerika funktioniert nicht mehr so wie in der Vergangenheit“, sagt der Sicherheitsexperte. Europa müsse Verantwortung für die eigene Sicherheit und Einigkeit übernehmen.
Deutschland als Hauptantrieb?
Deutschland komme dabei "eine ganz besondere Bedeutung zu", betont Keller. Deutschland habe mit Abstand die größte Bevölkerungszahl in Europa und sei mit Abstand der reichste Staat in Europa, so Keller. Hinzu komme, dass Deutschland über die strategische Mittellage verfügt. Dies sei für die Verteidigung des Kontinents entscheidend. Dennoch müsse Deutschland seine militärischen Fähigkeiten verbessern, so Keller zu Euronews.
Staatsminister Krichbaum betont, wie wichtig es ist, dass Deutschland als Vorzeigeland und Europa insgesamt verteidigungsfähig sind: "Fakt ist, dass auf Europa im Rahmen der NATO mehr Aufgaben zukommen", so Krichbaum. "Fakt ist, dass die Amerikaner sich sehr viel stärker auf den pazifischen Raum orientieren und ausrichten wollen".
Der Staatsminister für Europa beruft sich dabei auf Macron, der in der Vergangenheit bereits mehr europäische Souveränität gefordert hat. "Das ist etwas, was wir ausbauen müssen", so Krichbaum zu Euronews.
Deutschland und Europa müssen "rasch" "mehr militärische Fähigkeiten erwerben"
Europa muss geeint auftreten. Doch nur die Fähigkeit, sich adäquat verteidigen zu können, kann die europäische Einheit auch langfristig sicherstellen. Und da gibt es Hürden.
"Wir sind alle in der gemeinsamen Lage, dass wir als Europäer mehr militärische Fähigkeiten erwerben müssen. Und zwar rasch", sagt Sicherheitsexperte Keller zu Euronews.
Auch wenn ein groß angelegter Invasionskrieg nicht das wahrscheinliche Szenario für Deutschland und die Staaten in Mitteleuropa ist: Keller warnt vor "Nadelstichen", "die immer giftiger und immer stärker werden".
Damit meint der Sicherheitsexperte Sabotageakte gegen die Energieversorgung oder die russischen Drohnenüberflüge im europäischen Luftraum, "die Schaden anrichten". Gegen solche Dinge müssten wir uns jetzt wappnen, sagt Keller.
Das Problem: Technische Voraussetzungen für Verteidigung sind unterentwickelt
Dafür seien gegenwärtig weder die technischen noch die politischen Voraussetzungen gegeben, bemerkt Keller zu Euronews.
Das zeige sich schon bei der Bekämpfung russischer Drohnen:
"Wir müssen viel besser werden bei unserer Fähigkeit, überhaupt festzustellen, dass solche Flugobjekte im Anflug sind oder sich über unserem Territorium befinden", sagt Keller. "Schon da haben wir Defizite, die wir schnell beseitigen müssen", so der Sicherheitsexperte zu Euronews.
Deutschland müsse die Fähigkeiten aufbauen, diese Drohnen abzufangen, "vom Himmel zu holen, wieder aus dem Luftraum herauszugleiten". Das Problem: Die Ausrüstung von Bundeswehr und auch der Polizei sei noch nicht da, wo sie sein sollte. "Da ist noch vieles zu tun", kritisiert Keller.
Auch Staatsminister Krichbaum spricht zu Euronews über diese Lücke in der Verteidigung: "Beim Thema Drohnenabwehr ist uns Europäern jetzt vollkommen klar, dass wir handeln müssen".
Ist Deutschland im Falle eines Angriffs verteidigungsfähig?
Deutschland sei grundsätzlich militärisch handlungsfähig, so Sicherheitsexperte Keller. Doch die deutschen Munitionsvorräte zum Beispiel seien so "ausgelaugt", "so entleert, dass wir keinen Schießkrieg, wie ihn die Ukraine derzeit erlebt, über längere Zeit durchhalten würden. Das wäre nach wenigen Tagen erschöpft", so Keller zu Euronews.
"Das ist ein Beispiel, an dem man sehen kann, dass wir eigentlich gute Voraussetzungen haben, aber aufgrund der Einsparungen der letzten Jahrzehnte noch nicht da sind, wo wir gerne wären", warnt der Sicherheitsexperte.
Warum ist Deutschland militärisch so schlecht aufgestellt?
"Wir dachten, wir befinden uns in einer Zeit des ewigen Friedens, in einem vereinten, befreiten Europa, umgeben von Freunden. Für Deutschland eine historisch einmalige, paradiesische Situation. Man hat nicht gesehen, wie sich das in anderen Teilen der Welt nicht durchgesetzt hat", erklärt Keller.
"Wir standen unter amerikanischem Schutz und haben uns da wohlgefühlt. Wir konnten stattdessen in andere Dinge investieren: in Bildung, in unseren Sozialstaat. Diese Zeiten sind aber jetzt vorbei“, so Keller. Nun müssten Deutschland und Europa das aufholen, was sie 25 Jahre lang nicht für möglich halten wollten.
Wie kann eine Verbesserung erzielt werden?
Diese Lücke in der Verteidigung könne am Besten durch "gemeinsame Projekte" wieder geschlossen werden, sagt Staatsminister Krichbaum. "Rüstungsindustrie, europäische Verteidigungsfähigkeit - da wollen Frankreich und Deutschland auch ganz klar weiter nach vorne gehen", so Krichbaum zu Euronews.
Und es sind bereits gemeinsame, ambitionierte Projekte am Laufen:
"Wir haben auf der einen Seite FCAS [Future Combat Air System]. Da geht es darum, ein Kampfflugzeug zu entwickeln", so Krichbaum.
"Wir haben auf der anderen Seite das Main Ground Combat System, MGCS. Da geht es um die Entwicklung des Nachfolgers des Leopard 2, und das wollen wir natürlich im Idealfall auch alles zusammen lösen", sagt Krichbaum zu Euronews.
Doch das klingt in der Theorie einfacher, als sich in der Realität herausstellt.
"Wir hatten natürlich schon viel in der Vergangenheit, ich erinnere nur an den A400M als Transportflugzeug. Das ist auch alles andere als trivial, gerade weil solche Rüstungsprojekte viel an Planung und Zeit verlangen", so Krichbaum. Und nicht nur das: Bei den Projekten gehe es "um ganz, ganz erhebliche Summen", so der Staatsminister zu Euronews.
Hürde: Die produzierten Rüstungsgüter müssen "interoperabel" sein
Sicherheitsexperte Keller sieht noch eine weitere Schwierigkeit, die da in der Zusammenarbeit liegt: "Der Clou wird sein, dass wir nicht das nationale Durcheinander befördern - dass jeder seinen eigenen Panzer baut oder seine eigenen Streitkräfte - die dann aber gar nicht interoperabel miteinander sind, also gar nicht gemeinsam miteinander in den Einsatz gehen können", warnt Keller.
Auch Krichbaum mahnt: "Wir müssen aus dieser Fragmentierung der zahlreichen europäischen Waffensysteme heraus und uns deutlich besser koordinieren."
Ist Zussammenarbeit stärker als Ambition?
Doch genau an diesem Punkt zeigt die Zusammenarbeit bereits Risse. Die Herausforderung: europäische Zusammenarbeit über nationale Ambitionen zu stellen.
Sichtbar wird diese Diskrepanz am Beispiel des FCAS, dem deutsch-französischen, milliardenschweren Kampfjet-Projekt. "Zuletzt kam eine Forderung aus der französischen Industrie, nach dem Motto, 'jetzt wollen wir hier bei FCAS 80 % des Projektes haben'", erzählt Krichbaum. "Das war ursprünglich natürlich auch anders besprochen."
Auch Sicherheitsexperte Dr. Keller stellt fest: "Insbesondere der französische Konzern Dassault hat die Auffassung, dass er das Kampfflugzeug der Zukunft auch prima alleine bauen kann. Dass er da gar nicht die deutsche Seite so massiv mit im Boot haben muss. Und diese Haltung verstärkt sich immer mehr auf französischer Seite".
Bei anderen Projekten wie dem Main Ground Combat System (MGCS) - dem "Kampfpanzer der Zukunft" - funktioniere die Zusammenarbeit offenbar besser, so Keller.
Wie kann sich ein solcher Wandel von staatlicher Ambition bis hin zur europäischen Kooperation vollziehen?
Entscheidend sei eine gemeinsame Perspektive auf die Bedrohung, betont Keller. "Dass man gemeinsam weiß, man muss jetzt investieren, um die europäischen Fähigkeiten zu erhöhen". Doch das sei noch nicht genug. Die europäischen Staaten müssten diese Fähigkeiten so miteinander in Einklang zu bringen, "dass sie auch zusammen zur Wirkung kommen", erklärt Keller Euronews.
Laut Staatsminister Krichmann sei es besonders wichtig, in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa "gemeinsam" zu denken. "Immer im Rahmen der NATO. Denn nur dann bewahren wir auch unsere Abschreckungsfähigkeit", so Krichbaum.
Der Staatsminister für Europa beruft sich auf den berühmten Satz von Friedrich Merz: "Wir müssen uns verteidigen können, damit wir uns nicht verteidigen müssen". "Und genau das ist der Kern", sagt Krichbaum. "Deswegen müssen wir uns auch darauf einstellen, mehr zu verausgaben im Bereich der Sicherheit. Denn ohne Sicherheit ist alles andere nichts."
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