Israelischer Wissenschaftler: Europa muss "Völkermord" in Gaza stoppen

Immer mehr Politiker, Menschenrechtsaktivisten, Historiker und Rechtsexperten sind der Meinung, dass der jüdische Staat eindeutig gewillt sei, die Palästinenser zu vernichten und das Leben im Gazastreifen unmöglich zu machen.
Im Dezember 2023 hatte Südafrika beim Obersten Gerichtshof der Vereinten Nationen eine Klage eingereicht hat, in der Israel Völkermord vorgeworfen wird, was Israel als "unbegründet" zurückweist.
Euronews hat mit Omer Bartov gesprochen. Er ist Dekanprofessor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University, einer amerikanischen Ivy-League-Institution. Bartov argumentiert, dass das, was sich in Gaza abspiele, einem Völkermord gleichkomme.
Unabhängig davon haben wir den Rechtsexperten Stefan Talmon, Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn und derzeit Gastwissenschaftler an der Universität Oxford, befragt, der sagt, dass kein Völkermord vorliege. Sie können Talmons Interview hier lesen.
Nachweis der völkermörderischen Absicht
Omer Bartov, ein Experte für Völkermord und Holocaust, bezeichnete Israels Reaktion auf die Terroranschläge der Hamas vom 7. Oktober zunächst als "unverhältnismäßig" und sogar als "Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Im Mai 2024 änderte er jedoch seine Bewertung der israelischen Militäraktion und bezeichnete sie als "Völkermord", da es seiner Meinung nach immer mehr Beweise für die Absicht hinter Israels Handeln gibt.
Damals hatte die israelische Armee die Palästinenser aus Rafah, dem südlichen Zipfel des Gazastreifens, vertrieben und sie nach Mawasi gebracht - ein Küstengebiet, in dem es fast keine Unterkünfte gibt. Die Armee machte Rafah anschließend dem Erdboden gleich.
"Äußerungen von Premierminister Benjamin Netanjahu und Mitgliedern seiner Regierung sind ein Beweis für ihre Absicht, die Palästinenser zu vernichten und den Gazastreifen unbewohnbar zu machen", sagte Bartov gegenüber Euronews.
Israelische Beamte haben die Palästinenser beispielsweise als "menschliche Tiere" bezeichnet und gesagt, sie würden den Gazastreifen in "Schutt und Asche" legen.
Völkermord durch Konvention der Vereinten Nationen definiert
Gemäß der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 liegt Völkermord vor, wenn die Absicht besteht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten".
Die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für Völkermord ist nach wie vor eine komplizierte und komplexe Angelegenheit, wobei die Verfahren vor internationalen Gerichten bis zu 14 Jahre dauern können, wie es bei den Urteilen zum bosnischen Völkermord in Srebrenica der Fall war.
Während einige Experten den Völkermord als "Verbrechen aller Verbrechen" betrachten, argumentieren andere, dass Völkermord eine rechtliche Kategorie sei, die nicht als wichtiger angesehen werden sollte als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und warnen vor langwierigen Gerichtsverfahren auf der Suche nach Gerechtigkeit.
Um einen Völkermord nachzuweisen, muss man auch zeigen, dass die Absicht umgesetzt wird und dass es keine anderen Motive gibt als den Wunsch, die Gruppe zu vernichten, erklärte Bartov.
Er verwies ferner auf systematische israelische Militäroperationen, die darauf abzielen, "Krankenhäuser, Moscheen und Museen zu zerstören, um die Bevölkerung zum Verlassen der Stadt zu zwingen", obwohl "die Menschen nicht gehen wollen und können und keinen Ort haben, an den sie gehen können."
Israel weist Vorwurf des Völkermords zurück
Israel hat wiederholt den Vorwurf zurückgewiesen, eine völkermörderische Kampagne zu führen, und erklärt, seine Operation ziele ausschließlich darauf ab, die Hamas zu entmachten und auszurotten. Außerdem hat Israel erklärt, dass es niemals absichtlich Zivilisten ins Visier nehme. Der Hamas aber wirft Israel vor, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu benutzen.
Was Israels Operation im Gazastreifen von einer ethnischen Säuberung unterscheidet und den Willen zur Vernichtung der Palästinenser bestätigt, ist laut Bartov, dass "man es dieser Gruppe unmöglich macht, sich neu zu formieren, und es ist Abschnitt D der Völkermordkonvention, es geht darum, Maßnahmen aufzuerlegen, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen."
Bartov verweist auf einen kürzlich erschienenen 65-seitigen Bericht der israelischen Nichtregierungsorganisation Physicians for Human Rights, in dem es heißt, dass Israels Vorgehen in Gaza einem Völkermord gleichkommt.
Der Bericht dokumentiert die schwindelerregende Zahl von Fehlgeburten bei Frauen im Gazastreifen, die Zahl der Kinder, die untergewichtig oder zu früh geboren werden, und die Müttersterblichkeit inmitten einer Hungersnot aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung.
Experte sieht Vorhaben einer ethnischen Säuberung
Bartov ist der Ansicht, dass Israels Operation im Gazastreifen weitergehen wird, nicht um die Hamas zu besiegen, gegen die es auch nach fast zwei Jahren Krieg noch immer kämpft, sondern um den Gazastreifen von Palästinensern zu säubern, da Israel die Idee eines palästinensischen Staates nicht mehr akzeptiert.
Abschnitt A derselben Konvention besagt, dass die Tötung von Mitgliedern einer Gruppe in der Absicht, diese zu vernichten, ebenfalls einen Völkermord darstellt. In Abschnitt B ist die Rede von der Verursachung schwerer körperlicher oder geistiger Schäden bei Mitgliedern der Gruppe. Bartov sagt, dass beides im Fall der israelischen Operation in Gaza gelte.
"Das ist klar, wir sprechen von 60.000 bis 100.000 Toten", sagte Bartov und erwähnte auch 140.000 Verwundete, chronisch Kranke, die starben, weil die Krankenhäuser nicht mehr funktionierten, und durch Hunger geschwächte Palästinenser.
Bartov weist das Argument zurück, dass die vom Hamas-kontrollierten Gesundheitsministerium veröffentlichte Zahl der Opfer, die nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterscheidet, ungenau oder, wie Israel behauptet, stark übertrieben sein könnte.
Wie die israelische Nichtregierungsorganisation B'Tselem, die Israels Vorgehen im Gazastreifen ebenfalls als Völkermord bezeichnet, ist er der Ansicht, dass die Zahlen der Hamas "zuverlässig", "gut dokumentiert" und sogar "konservativ" sind, da noch Tausende von Leichen unter den Trümmern liegen.
"Die IDF (Israelische Verteidigungsstreitkräfte) sollten ihre eigenen Zahlen vorlegen und der ausländischen Presse Zutritt gewähren, denn die Beweislast liegt bei den IDF", betonte Bartov und fügte hinzu, dass die Zahl der Opfer für den Nachweis eines Völkermordes eigentlich keine Rolle spielt.
"Bei der Konvention geht es um die Tötung von Menschen und Mitgliedern der Gruppe, nicht um die Tötung aller Mitglieder der Gruppe", betonte er.
Milderung der humanitären Krise "irrelevant" für Völkermordvorwurf
Frühere Waffenstillstände, denen Israel zugestimmt hat, und die jüngste Lockerung der Lebensmittelblockade angesichts von Berichten über Hungersnöte im Gazastreifen änderten nichts am Völkermordvorwurf, so der Experte.
Die Waffenstillstände seien Israel aufgezwungen worden, argumentiert er stattdessen.
"Der letzte Waffenstillstand wurde von Präsident Trump bei seinem Amtsantritt verhängt, und im März brach Israel den Waffenstillstand einseitig und tötete innerhalb weniger Minuten ein paar Hundert Menschen", erklärte er. "Das hat nichts mit der Hauptabsicht (des Völkermordes) zu tun ... es ist überhaupt nicht etwas, das freiwillig getan wird."
Bartov behauptet, dass die israelische Regierung und Netanjahu der israelischen Öffentlichkeit offen sagen, dass sie der "sogenannten humanitären Pause" zustimmen, insbesondere auf Druck von Trump, weil "dies Maßnahmen sind, die es Israel ermöglichen, seine Operationen fortzusetzen."
Im Gazastreifen werden derweil weiterhin Palästinenser getötet, sagt er.
Die meisten Israelis "leugnen", was in Gaza geschieht
Bei der Veröffentlichung ihrer Berichte am Montag veröffentlichten die israelischen Nichtregierungsorganisationen B'Tselem und Physicians for Human Rights einen gemeinsamen Appell, in dem sie Israel und die internationale Gemeinschaft aufforderten, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um den Völkermord zu stoppen, und dabei alle nach internationalem Recht verfügbaren rechtlichen Mittel einzusetzen.
Wir haben Bartov, der selbst israelischer Staatsbürger ist und in der Armee gedient hat, die Frage nach der öffentlichen Meinung in Israel gestellt.
"Natürlich wissen sie es, man kann es nicht ignorieren, aber die meisten Israelis wollen es nicht wissen", so Bartov.
"Gestern gab es einen außergewöhnlichen Bericht auf Kan 11, dem öffentlichen Fernsehen, das zum ersten Mal Bilder von hungernden Kindern in Gaza zeigte, dann aber sagte, das seien alles Fake News und zeigte Aufnahmen von Menschen, die auf einem Markt in Gaza Obst und Gemüse verkaufen.
Euronews überprüfte das Material von Kan 11, fand aber auch heraus, dass israelische Medien behaupten, dass einige der Fotos, die hungernde palästinensische Kinder zeigen, angeblich manipuliert wurden.
USA und Europa sind "verpflichtet, den Krieg in Gaza zu beenden"
Für Bartov ist es wichtig, dass Israels Handeln in Gaza als Völkermord anerkannt wird, "weil alle Unterzeichnerstaaten der Völkermordkonvention, einschließlich aller europäischen Länder und der Vereinigten Staaten, verpflichtet sind, etwas zu tun". Die Verantwortlichen müssten gestoppt und bestraft werden.
Stattdessen seien die USA und Europa "mitschuldig" an den Geschehnissen in Gaza.
Bartov sieht besondere Veranwortung Deutschlands
"Im Falle Deutschlands ist es besonders entsetzlich, nicht nur, weil es die europäische Großmacht ist, der Hauptlieferant (von Waffen) an Israel, sondern auch, weil es dies im Namen des Holocausts tut (...) die Staatsraison."
Deutschland, das sich für den Holocaust verantwortlich fühle, solle Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verhindern, aber nicht ein Land schützen, "das der Nachfolgestaat des Holocaust ist, während es selbst einen Völkermord durchführt."
"Das ist eine völlige Verzerrung der Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg, dem Nationalsozialismus und dem Holocaust", argumentiert Bartov.
Furcht vor wachsendem Antisemitismus
Während Bartov sagt, dass dringend Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Gewalt in Gaza zu stoppen, befürchtet er als eine der langfristigen Folgen, dass "Israel zu einem Paria-Staat wird (...), wenn man ihm erlaubt, damit durchzukommen."
"Wenn man ein Interesse daran hat, Israel zu schützen und ihm zu helfen, ein anständiger Ort zu werden, muss man ihm jetzt Maßnahmen auferlegen, die nicht nur das Töten von Palästinensern, sondern auch die rasche Aushöhlung der Demokratie stoppen", forderte er.
Bartov äußerte sich auch besorgt über die Auswirkungen, die der Status Israels als Pariastaat auf die jüdischen Gemeinden in der ganzen Welt hätte, die seiner Meinung nach "schwerwiegend" wären, und verwies auf die Zunahme des Antisemitismus.
Bartov, der sich in seinen Forschungen intensiv mit den Verbrechen des Nationalsozialismus befasst hat, bedauert auch, dass die zum Gedenken an den Holocaust ins Leben gerufenen Einrichtungen, seien es Gedenkstätten oder Museen, zum Thema Gazastreifen schwiegen.
Ihr Auftrag besteht nicht nur darin, die Öffentlichkeit an die Schrecken des Holocaust zu erinnern, sondern auch darin, künftige Gräueltaten zu verhindern, indem sie Bildung und Gedenken fördern.
Wenn sie sich nicht zu Wort melden, wird das ihrer Glaubwürdigkeit schaden, sagt er. "Sie werden nicht mehr in der Lage sein, sich als etwas anderes darzustellen als Institutionen, die sich nur damit beschäftigen, was den Juden von den Nazis angetan werden konnte", so Bartov.
Könnte man die Hamas-Anschläge vom 7. Oktober als Völkermord bezeichnen?
Auf die Frage, ob die von der Hamas am 7. Oktober 2023 verübten Terroranschläge, bei denen fast 1.200 Israelis ums Leben kamen, ebenfalls als Völkermord eingestuft werden könnten, sagt Bartov:
"Natürlich war es ein Kriegsverbrechen. Wegen der großen Zahl der getöteten Zivilisten war es eindeutig ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
"Das müsste man beurteilen, aber wenn es mit der Hamas-Charta aus den späten 1980er Jahren zusammenhängt, die ein antisemitisches, völkermörderisches Dokument ist, könnte es als völkermörderischer Akt gewertet werden", erklärt der Experte. Und weiter:
"Ich bin da allerdings etwas skeptisch. Ich denke, dass man dieses Argument sicherlich vorbringen kann. Ich bin skeptisch, weil die Hamas später tatsächlich andere Dokumente herausgegeben hat."
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