Dramatischer Appell an Merz: Offener Brief für Freilassung der Geiseln

Ein kürzlich veröffentlichter offener Brief fordert die bedingungslose Freilassung aller Geiseln aus dem Gazastreifen, eine diplomatische Verstärkung und politischen Druck auf die Hamas, sowie die Entwaffnung und Kapitulation der Terrormiliz und ein Ende des Missbrauchs von Zivilisten in Gaza durch die Hamas.
Unter den Unterstützern sind unter anderem Alon Nimrodi, Vater des noch im Gazastreifen gefangenen Tamir Nimrodi, Liran Berman, Bruder der Geiseln Ziv und Gali Berman, Ricarda Louk, Mutter von Shani Louk, sowie die freigelassene Geisel Raz Ben Ami, die Literaturnobelpreisträgerin und Schriftstellerin Herta Müller und die Schauspielerin Uschi Glas.
"Die Familien der verbliebenen 50 Geiseln leben seit fast zwei Jahren in ständiger Ungewissheit, viele ohne gesicherte Informationen über den Gesundheitszustand oder das Leben ihrer Angehörigen", heißt es in dem Brief.
Bei dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurden über 1.200 Menschen getötet und um die 250 nach Gaza von der Hamas und anderen Terrormilizen verschleppt.
Deutschland setzt seit dem 7. Oktober vor allem auf "stille Diplomatie" und Geheimdienstkontakte, unterstützt von Vermittlern wie Katar, Ägypten und den USA, um über Gefangenenaustausch und Verhandlungen die Freilassung der Geiseln zu erreichen. Bislang wurden auf diesem Weg 140 Geiseln freigelassen. Acht weitere wurden von der israelischen Armee befreit.
Der New York Times zufolge wurden viele Geiseln vom 7. Oktober im Austausch gegen palästinensische Gefangene freigelassen. Mehr als drei Dutzend kamen jedoch ums Leben: Sieben wurden von ihren Entführern getötet, vier starben durch israelische Luftangriffe. Drei Geiseln wurden versehentlich von israelischen Soldaten erschossen, eine weitere fiel im Kreuzfeuer. Bei 26 weiteren Toten sind die genauen Umstände unklar.
Israelischen Schätzungen zufolge sollen von den noch 50-verbliebenen Geiseln 20 am Leben sein.
'Traumatisierende Zeitschlaufe'
Gegenüber Euronews erklärt die Journalistin und Gründerin des Frauenmagazins "Aviva", Sharon Adler, dass sie sich entschieden hat, den Brief zu unterschreiben und zu teilen, da man "die offenen Briefe, so wie wir ihn hier sehen, an einer Hand abzählen kann".
"Wir befinden uns in einer Art traumatisierenden Zeitschlaufe", so Adler. "Man steht morgens auf mit den Bildern der Verschleppten und gefolterten Menschen, die sich in den Tunneln, aber auch in zivilen Wohnungen befinden. Es sind Bilder der Verschleppten, aber auch ihrer Angehörigen, die uns hier in Deutschland, in Berlin, erreichen. Diese Bilder machen uns hilflos, weil wir von hier aus nicht viel tun können", ergänzt die Journalistin.
Um dieser Hilflosigkeit entgegenzukommen, nutzt sie das Schreiben, und geht auf die Straße, um für die Freilassung der Geiseln Sichtbarkeit zu erzeugen.
Adler zufolge gebe es zu wenig Hintergrundinformationen über die einzelnen Geiseln. "Im Prinzip müsste jeder in Deutschland lebende demokratische Mensch, die Namen und die Schicksale der Geiseln kennen. Tun sie aber nicht." Diese "gewisse Indifferenz" prangert Adler an.
'Du siehst Deinen Sohn sterben und kannst nichts tun'
In dem Appel an Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) werden auch die sieben Geiseln, die neben der israelischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben, hervorgehoben.
Dazu gehört auch der 22-jährige Rom Braslavski. Er wurde am 7. Oktober vom Supernova-Festival in den Gazastreifen verschleppt.
Anfang August hat die Terrormiliz "Islamischer Dschihad" ein Propagandavideo veröffentlicht, in dem Braslavski unter Tränen um seine Freiheit bittet. Der ausgemergelte Deutsch-Israeli klagte in dem Video über starke Schmerzen, Hunger, Durst und Schlafstörungen. Zudem könne er nicht mehr laufen, er stehe "an der Schwelle des Todes".
Die Familie hatte die Veröffentlichung von Teilen des Propagandavideos erlaubt. Gegenüber dem israelischen TV-Sender "Channel 12 News" sagte Braslavskis Vater: "Du siehst Deinen Sohn sterben und kannst nichts tun."
Artikel 3 der Genfer Konventionen von 1949 stuft die Geiselnahme im Rahmen interner bewaffneter Konflikte als Kriegsverbrechen ein. In Verbindung mit Aufnahmen, die Geiseln in besonders schutzloser Lage zeigen und eine unmenschliche Behandlung dokumentieren, liegt damit ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht vor – insbesondere gegen die Würde des Menschen. Videos dieser Art werden zudem gezielt zur psychologischen Kriegsführung eingesetzt.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zeigte sich "entsetzt" über die Videos, die "drastisch die lebensbedrohlichen Bedingungen" belegen, unter denen die Geiseln festgehalten werden.
Die Hilfsorganisation bekräftigte ihre Forderung, Zugang zu den in Gaza festgehaltenen Geiseln zu bekommen, um deren Gesundheitszustand zu überprüfen, medizinische Versorgung bereitzustellen und den Austausch mit Angehörigen zu ermöglichen.
Wie die BBC berichtet, erklärte der militärische Arm der Hamas, die Al-Kassam-Brigaden, sie würden der Bitte des Roten Kreuzes um die Übergabe von Nahrungsmitteln und Medikamenten nachkommen – allerdings nur, wenn dauerhaft funktionierende humanitäre Korridore nach Gaza eingerichtet und während der Hilfslieferungen sämtliche Luftangriffe ausgesetzt würden.
Gleichzeitig steht das Rote Kreuz in Israel stark in der Kritik und wird beschuldigt, bisher nicht genug unternommen zu haben, um den Geiseln zu helfen.
Dem offenen Brief zufolge sollen Braslavski, die beiden 27-jährigen Zwillingsbrüder Gali und Ziv Berman und Alon Ohel (24) am Leben sein. Über den Zustand des 18-jährigen Tamir Nimrodi gibt es keinerlei aktuelle Informationen. Weiter heißt es in dem Brief, dass der 38-jährige Tamir Adar und der 19-jährige Itay Chen nicht mehr am Leben seien.
Nach Veröffentlichung der jüngsten Propagandavideos sind die Eltern der verschleppten Geiseln nach Berlin gereist, um die Bundesregierung zum Handeln aufzufordern.
Der Vater des getöteten Chen sagte im Interview mit der französischen Nachrichtenagentur AFP, dass er "große Hoffnungen in Bundeskanzler Merz" setze und hoffe, dass die aktuelle Regierung "zumindest die Bereitschaft zeigt, mehr zu tun."
Merz verkündet Waffenexportstopp
Vergangene Woche hat das israelische Sicherheitskabinett einen Plan zur Besatzung von Gaza-Stadt gebilligt. Es wurde ein Fünf-Punkte-Plan "zur Niederlage der Hamas" und "zum Beenden des Krieges" dargelegt, der mit einer Mehrheit der Stimmen angenommen wurde.
Merz hatte daraufhin überraschend verkündet, dass die Bundesregierung von nun an keine Waffen mehr an Israel liefert, die im Gazastreifen eingesetzt werden könnten. Rüstungsgüter der Luft- und Seeverteidigung seien von dem Exportstopp nicht betroffen.
Dem ARD-Deutschlandtrend zufolge unterstützen 43 Prozent der Deutschen, Waffenexporte an Israel zu begrenzen. 30 Prozent befürworten einen vollständigen Stopp der Waffenexporte.
Die Ankündigung löste Unstimmigkeiten in der Union aus, da Merz sie Berichten zufolge nicht mit der Fraktion abgesprochen habe.
Zu dem Embargo sagte Merz im Interview mit den Tagesthemen: "Wir können nicht Waffen liefern in einen Konflikt, [...] der Hunderttausende von zivilen Opfern fordern könnte, der eine Evakuierung der ganzen Stadt Gaza zur Voraussetzung hat. Wohin sollen diese Menschen gehen? Das können wir nicht, das tun wir nicht, und das werde ich auch nicht tun."
'Einzige Weg, die Geiseln nach Hause zu bringen, ist ein umfassendes Abkommen'
Auch in Israel protestieren viele Menschen gegen die Pläne zur Einnahme von Gaza der Regierung von Netanjahu. Die Organisation "Hostages and Missing Families Forum: Bring Them Home Now" hat erklärt, dass der Plan bedeutet, "die Geiseln aufzugeben".
"Indem wir eine militärische Eskalation den Verhandlungen vorziehen, überlassen wir unsere Angehörigen der Gnade der Hamas. Der einzige Weg, die Geiseln nach Hause zu bringen, ist ein umfassendes Abkommen", heißt es einer Erklärung der Organisation zufolge.
'Auch Deutschland ist betroffen'
Der Appell an den Bundeskanzler prangert auch die Lage für Juden und Jüdinnen in Deutschland an.
"Durch Hass, Hetze und Angst Auch in Deutschland zeigt die Hamas-Propaganda Wirkung: Antisemitische Vorfälle haben sich verfünffacht. Viele jüdische Menschen leben in Angst oder sehen hier keine Zukunft mehr. Der Terror wird auf unseren Straßen gefeiert, radikale Parolen rufen zur Gewalt auf, und selbst Kinder werden für diese Hetze instrumentalisiert", heißt es in dem Brief.
Ein im Juni erschienener Bericht des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) hat im Jahr 2024 8.627 antisemitische Vorfälle verzeichnet. Im Vorjahr lag die Zahl bei 4.886 antisemitischen Vorfällen. Binnen einen Jahres haben sich antisemitische Vorfälle in Deutschland somit fast verdoppelt.
In dem Rias-Bericht wurde erläutert, mit welchem Hintergrund die verzeichneten Angriffe verübt worden. Aufgeteilt wurden diese in Angriffe mit bekanntem Hintergrund, darunter können zwei der acht Fälle extremer Gewalt dem islamistischen Terrorismus zugeordnet werden. Weiter heißt es, dass 27 antisemitische Bedrohungen einen rechtsextremen Hintergrund hatten.
Mit 26 Prozent ist der am häufigsten zuordenbare Hintergrund antisemitischer Vorfälle in Deutschland antiisraelischer Aktivismus. So heißt es, dass besonders viele Vorfälle sich im Kontext von Demonstrationen und Versammlungen ereignet hatten, bei denen islamistische, links-antiimperialistische und antiisraelische Gruppen gemeinsam auftraten.
Am Ende des offenen Briefes des "Netzwerkes Zivilgesellschaft gegen Antisemitismus" und Verein "a.Mensch e.V"., wird betont, dass mit der Unterschrift ein Zeichen gegen Terror, gegen Antisemitismus und für die Unantastbarkeit der Menschenwürde – in Israel, in Gaza, in Deutschland und weltweit gesetzt werden soll.
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